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Ilka Schaumberg ist bereits 7000 Kilometer mit dem Fahrrad durch ganz Deutschland gefahren.

© Kai-Uwe Heinrich

Ilkas Fahrradreise: Wo es hingeht, entscheidet der Würfel

Seit sechs Monaten ist Ilka Schaumberg mit dem Fahrrad in Deutschland unterwegs und gibt pro Tag weniger als 20 Euro aus. Und jeden Tag gibt’s eine neue Aufgabe. Eine Begegnung.

Für eine, die alle paar Nächte bei fremden Leuten übernachtet, ist Ilka Schaumberg überraschend höflich-distanziert. Den jungen Verkäufer im Comicladen siezt die 34-Jährige mit den strohblonden kurzen Haaren und den knielangen Hosen, die ein Tattoo an der Wade freigeben. „Würden Sie eine Tagesaufgabe ziehen?“, fragt sie am Tresen des Geschäfts in Friedrichshain mit hoher, sanfter Stimme, die gar nicht zu ihrem Erscheinungsbild passen mag. Schaumberg holt einige Umschläge hervor, verschiedene Größen und Farben. Der Verkäufer entscheidet sich für einen kleinen weißen.

Um die Leute zum Mitmachen zu bewegen, muss Ilka Schaumberg erklären, was sie treibt. Im April hat sie sich auf „Rolffi“ geschwungen, so nennt sie ihr Fahrrad. Ihre Wohnung in Lübeck hat sie gekündigt, ebenso wie den Job in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seitdem hat sie knapp 7000 Kilometer zurückgelegt, mit 50 Kilogramm Gepäck von Bundesland zu Bundesland. Und Ilka Schaumberg möchte noch mindestens ein halbes Jahr weiterstrampeln. Nicht einfach so – für ihre Reise gibt es klare Regeln.

Wo es hingeht entscheidet der "Bundesländerwürfel"

Pro Tag stehen Ilka Schaumberg nur 20 Euro aus dem eigenen Ersparten zur Verfügung – mehr gestattet sie sich nicht. Wo es als Nächstes hingeht, entscheidet ein großer Holzwürfel, der „Bundesländerwürfel“, mit den nördlichen Ländern. Zuletzt hat er Berlin/Brandenburg angezeigt. Um „spontaner zu werden“, wie Schaumberg sagt, lässt sie täglich jemanden eine Tagesaufgabe für sich ziehen. Jetzt hat der Comicverkäufer ihr Schicksal in der Hand: Kann sein, dass sie wie zuletzt den Tag damit verbringt, ein Tierheim zu suchen, in dem sie helfen kann. Oder jonglieren lernt.

Mit Schlumpf, Charme und Helm.

© Kai-Uwe Heinrich

Oder die Aufgabe meint es wie vor einigen Tagen besonders gut und ordnet an, sie solle mal richtig schön ausschlafen. Nachdem Schaumberg dem Verkäufer ihr Anliegen vermittelt hat, sind die beiden schnell per Du. Ihr Reisekonzept reißt offenbar auch soziale Hemmschwellen ein.

Mediale Aufmerksamkeit wollte sie damit eigentlich gar nicht erregen

Das Konzept klingt nach Castingshow oder Reality Doku. Doch Ilka Schaumberg braucht nicht zu fürchten, rausgewählt zu werden. Es gibt kein Kamerateam, das sie begleitet, keine Jury und keinen Hauptgewinn. Stattdessen sind es 50 Freunde und Bekannte, die auf ihre Bitte hin Tagesaufgaben und Reiserouten für sie gesammelt haben. Dutzende Umschläge fährt Schaumberg in den großen weißen Fahrradtaschen mit sich herum.

Mediale Aufmerksamkeit wollte sie damit eigentlich gar nicht erregen, sie fährt für sich, erfüllt sich so den Traum einer großen Reise. Doch vor wenigen Tagen, als der Würfel Berlin zeigte, stand in ihrem Umschlag: „Finde eine Zeitung, die über dich berichtet.“ Aufgabe erfüllt!

Die Idee hatte Schaumberg, als sie im vergangenen Jahr vier Wochen lang mit dem „Deutschland-Pass“ der Bahn das Land bereiste. Da merkte sie, wie viel es in deutschen Städten zu entdecken gibt – sei es in Berlin oder in kleinen Ortschaften auf der Durchreise. Schon damals entschied der Würfel, wo es langgehen sollte.

Um sich zu beschäftigen, ließ sie sich Tagesaufgaben stellen. Diesmal ist das Konzept noch komplexer: Gelingt es Schaumberg – wie „in 98 Prozent der Fälle“, wie sie sagt – eine kostenfreie Übernachtungsgelegenheit zu finden, sei es in Gemeinderäumen, Pilgerherbergen oder bei Reisebekanntschaften, wandern fünf Euro ihres Tagesbudgets in ein „Spendensäckchen“. Nach jedem Monat spendet sie den Inhalt an eine soziale Einrichtung. Weil Reisebekanntschaften häufig etwas hinzugeben, kämen monatlich mindestens 200 Euro zusammen, sagt sie.

Über den heutigen Tagesablauf entscheidet jetzt also der weiße Umschlag. Der Verkäufer des Comicladens beugt sich neugierig über den Tresen. Schaumberg zieht ein Kärtchen mit Blumenaufdruck hervor – die Aufgabe lautet: Sie soll ihrer Freundin Jutta eine Postkarte schreiben. Sogar eine Briefmarke liegt bei, damit Schaumberg nicht ihr Tagesbudget anzapfen muss. Bevor sie geht, bittet sie den Verkäufer, sich in ihrem Gästebuch zu verewigen.

Mit 15 Euro die teuerste Nacht ihrer bisherigen Reise

Es ist schon das zweite, das sie gefüllt hat mit Nachrichten ihrer Bekanntschaften, mit Fotos, Broschüren und kleinen Fundstücken ihres Reisewegs. Während der Verkäufer schreibt, deutet er auf einen Drehständer im Eck. „Wir haben Postkarten da hinten. Ich würde dir eine sponsern für dein Projekt.“ Solche spontanen Hilfestellungen und Großzügigkeiten ist Ilka Schaumberg mittlerweile gewohnt. Als es losging, hatten ihre Freunde noch gesagt: „So funktioniert Deutschland nicht.“ Ilka Schaumbergs Erfahrungen sind anders.

Heute kann Schaumberg die Unterstützung gut gebrauchen. In einem Café in der Nähe des Comicladens, wo sie die Postkarte schreibt und sich für drei Euro einen Milchkaffee leistet, kehrt sie von einem Telefonat mit einem Hostelbetreiber zurück. Heute Nacht muss sie ihr Bett in Friedrichshain räumen. Woran sie nicht gedacht hat: Es ist Marathon-Wochenende, die Stadt ist voll. Schaumberg lacht. Keine Chance auf einen Rabatt. Jetzt wird es mit 15 Euro die teuerste Nacht ihrer bisherigen Reise. Das bedeutet: Sie hat noch zwei Euro für den restlichen Tag. Und das Spendensäckchen wird nicht gefüllt. Doch Schaumberg ist überzeugt: „Alle Dinge kommen sowieso, wie sie kommen sollen.“ Wenn ihr die ungewöhnliche Reise etwas gezeigt hat, dann das.

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