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Das Denkmal erinnert an die 30.000 Berliner Jüdinnen und Juden, die in Ghettos und Vernichtungslager deportiert wurden.

© Kitty Kleist-Heinrich

Gedenken an die Pogromnacht in Berlin: Innehalten inmitten von Baulärm am Güterbahnhof Moabit

Am Güterbahnhof Moabit wird an Pogrome und Deportationen erinnert. „Der Zustand des Ortes symbolisiert unsere Probleme mit dem Gedenken“, sagt Mittes Bezirksbürgermeister.

Auch wenn die Nationalsozialisten schon seit Adolf Hitlers Machtergreifung 1933 das gesellschaftliche Leben von Jüdinnen und Juden immer weiter eingeschränkt hatten und der Antisemitismus in der Bevölkerung schon lange schwelte, kam es in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 doch zu einer plötzlichen und von vielen Betroffenen nicht vorhergesehenen Steigerung des deutschen Judenhasses: Überall in Deutschland wurden Synagogen in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, Juden und Jüdinnen physisch misshandelt. 

Polizei und Feuerwehr ließen dies geschehen oder beteiligten sich gar an den Übergriffen. Spätestens ab dieser Nacht fürchteten Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht nur um ihre Bürgerrechte und ihre ökonomische Existenz, sondern um ihr Leben.

Die Gedenkveranstaltung, die Dienstagvormittag an der Gedenkstätte am ehemaligen Güterbahnhof in Berlin-Moabit begangen wurde, verband die Erinnerung an die Ausschreitungen der Reichspogromnacht vor 83 Jahren mit der an die Deportationen, die in Berlin ab Oktober 1941 einsetzten. In den Jahren 1942 und 1943 zwangen die Nationalsozialisten an diesem Ort in Moabit 32.000 Juden und Jüdinnen dazu, in Güterwaggons zu steigen und verschleppten sie in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Mittel- und Osteuropa.

Martin Grunenwald, Schulleiter der nahegelegenen Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule (THG), die zusammen mit dem Bürgerverein Gleis 69 und dem Bezirksamt Berlin-Mitte die Zeremonie organisiert hatte, sprach zu Beginn des Gedenkens. Anschließend begrüßte der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel (Bündnis 90/Die Grünen) die etwa 80 Teilnehmenden. 

Die Geschichte reflektieren, in der Gegenwart intervenieren

Er wies auf die Pflicht hin, das Gedenken nicht dem Vergessen preiszugeben, auch wenn es bald keine Zeitzeugen mehr geben werde. Itai Axel Böing, früher Lehrer an der Moses-Mendelssohn-Oberschule (die in der THG aufgegangen ist), erinnerte daran, dass der Judenhass in Europa nicht durch die Nationalsozialisten entfacht wurde, sondern Tradition hat. 

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Sowohl das Neue Testament als auch der Koran enthielten judenfeindliche Stellen. Martin Luther, auf den sich die Evangelische Kirche als ihren Gründer affirmativ bezieht, verbreitete in seinen Schriften Judenhass. Böing forderte, diese Geschichte zu reflektieren und in der Gegenwart zu intervenieren: Der Antisemitismus unter Christen und Muslimen müsse von den religiösen Gemeinschaften selbst bekämpft werden.

Esther Hirsch, Kantorin der Synagoge Sukkat Schalom in Berlin-Charlottenburg, sang auf hebräisch Psalm 23, der sowohl Bestandteil der jüdischen wie auch der christlichen Liturgie ist. Ein Chor der Schüler sang auf hebräisch den jüdischen Segen „Sim Shalom“. 

Der Gedenkort existiert erst seit 2017

Drei Schülerinnen trugen pars pro toto Biographien von deutschen Juden vor, die der Shoah zum Opfer fielen. Sie rezitierten zudem das Gedicht „Die Sinnende“ der Berliner Lyrikerin Gertrud Kolmar, die die Nationalsozialisten am 27. Februar 1943 im Rahmen der „Fabrikaktion“ in Berlin verhafteten und deportierten. Sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz Anfang März wurde sie ermordet.

Obwohl vom ehemaligen Güterbahnhof in Moabit die meisten der Berliner Juden deportiert wurden, existiert der Gedenkort erst seit 2017; das Gelände war ungepflegt und vergessen. Darauf wies auch von Dassel hin: „Wenn man sich diesen Ort anschaut, eingeklemmt zwischen zwei Gewerbegrundstücken, so ist das auch ein Symbol für die Probleme, die wir, das heißt die Bundesrepublik, mit dem Gedenken an die Schrecken des Dritten Reichs haben.“ 

Während der Gedenkfeier übertönte Baulärm die Reden. Das Gelände, das zur Gedenkstätte gehört, birgt nur einen kleinen Teil der 135 Meter langen ehemaligen Deportationsrampe. Der Rest befindet sich auf drei Privatgrundstücken. 

Eines gehört der Firma Lidl, die dort einen Supermarkt samt Parkplatz errichtete und einen Teil der Rampe zuschütten ließ – bevor der Ort 2016 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Der Verein Gleis 69, der sich für das Erinnern jüdischer Schicksale in Berlin einsetzt, fordert seit Jahren die Freilegung der Rampe und den Ausbau der Gedenkstätte.

Larissa Kunert

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