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Berlin: Kein Kapitän in Sicht

Nach dem Rücktritt ihres Landeschefs schlingern die Piraten führungslos Die Suche nach einem Ersatz für Hartmut Semken wird schwierig. Das Amt ist nicht begehrt.

Es war der würdige Abschluss eines intensiven Tages für den Berliner Landesverband der Piratenpartei: ein bisschen skurril, ein bisschen tragikomisch, sehr kühl und von allseitiger Verletztheit geprägt. Der Auftritt Hartmut Semkens am Mittwochabend beim öffentlichen Treffen des Landesvorstands in der Geschäftsstelle der Partei in Mitte atmete noch einmal das leicht larmoyante, unsichere Pathos, mit dem der in der Nacht zu Mittwoch schließlich zurückgetretene Ex-Landesvorsitzende sich in den vergangenen Monaten in immer größere Schwierigkeiten manövriert hatte.

Wie Semken da kurz vor Beginn des außerordentlichen Treffens mit dem Landesvorstand der Partei gemeinsam mit dem Piratenabgeordneten Alexander Morlang in Motorradkleidung, den Helm unter dem Arm, mit starrem Blick die rappelvolle Geschäftsstelle der Piraten in der Pflugstraße betrat. Wie er eine kurze Erklärung verlas, noch einmal den „schrecklichen Druck“ betonte, unter dem er in den letzten Monaten gestanden habe. Wie er zugab, unter diesem Druck stehend „Fehler gemacht, den Landesvorstand belogen“ zu haben, wofür der Rücktritt die „einzige Konsequenz“ sei. Wie er die zu dem außerordentlichen Treffen mit dem Landesvorstand erschienene Menge – darunter überwiegend Piraten – wissen ließ, dass er „Ihnen“ – Semken siezte – für weitere Anfragen fortan nur noch schriftlich zur Verfügung stehe. Schließlich: Wie Semken und Morlang durch die schweigende Menge nach draußen stapften, Motorräder aufheulten und sich rasch entfernten. Das alles zeigte, auch ohne dass hier die konkreten Umstände von Semkens Rückzug zur Sprache kamen – eine Nachricht, die Semken aus einer geheimen Krisensitzung des Vorstands an einen „Spiegel“-Journalisten sandte – noch einmal viel von dem, worunter der Landesverband und auch Semken selbst in den vergangenen Monaten zu leiden hatten: unter den Folgen einer grandiosen Fehlbesetzung. Das alles schien Semken, der sich in besagter Mail auf seine ganz eigene Art noch als „König“ bezeichnet hatte, der weder tot noch bereit sei zu gehen, auf seltsame Weise angemessen. Es war der letzte Auftritt jenes Vorsitzenden, der Partei und Öffentlichkeit vom ersten Tag seiner Amtszeit an mit Spitzen gegen die Fraktion im Abgeordnetenhaus und seine Vorstandskollegen sowie Aussagen, in denen er etwa Rechtsextremisten und ihre militanten Gegner gleichsetzte („Dreck bleibt Dreck.“), irritiert hatte.

Auch, wie der Blick der Piraten sich bei der Diskussion nach Semkens Abgang in die Zukunft richtete, sagte viel aus über das, was in den vergangenen Monaten vorgefallen ist: Dass mit Schatzmeister Enno Park und Beisitzer Thomas Wied gleich zwei Vorstandsmitglieder mehr oder weniger direkt betonten, die zukünftige Arbeit werde auch deshalb leichter fallen, weil mit Semken eine Hauptbelastung wegfalle, sagt viel aus über das Maß, in dem sich die Verantwortungsträger bekriegt haben. „Die letzten Wochen haben uns viel Arbeit gemacht, die jetzt wegfällt“, versuchte Park jene Mitglieder zu beruhigen, die ein kommissarisches Weiterarbeiten der verbliebenen vier Vorstandsmitglieder bis zur im September geplanten Landesmitgliederversammlung kritisch sehen. „Ohne übermäßig zynisch sein zu wollen: Ein Großteil der Arbeitskraft ist in den letzten Wochen in die Probleme innerhalb des Landesvorstands geflossen“, sekundierte Wied. Dennoch seien die verbliebenen Vorstandsmitglieder verstärkt auf Hilfe von der Basis angewiesen: „Wir müssen uns anders organisieren“, betonte Christiane Schinkel, bis dato Semkens Stellvertreterin. Gerade im Bereich der IT, den Semken zuletzt betreute, sei der Vorstand auf die Hilfe anderer Parteimitglieder angewiesen. Einige boten ihre Hilfe an Ort und Stelle an.

Bei aller Harmonie, die damit nach Semkens Abgang herrschte: Grundlegend präsentierte sich der Landesverband, wohl auch noch unter der Einwirkung der jüngsten Geschehnisse, durchaus führungsschwach. Keines der derzeitigen Vorstandsmitglieder mochte sich dazu durchringen, bei dieser Gelegenheit eine Kandidatur für das Amt des Vorsitzenden in Aussicht zu stellen. Begehrt scheint das Amt, das Semken verwaist zurücklässt, auch sonst wahrlich nicht. Amtsvorgänger Gerhard Anger betonte im Anschluss an die gut einstündige Veranstaltung lediglich eventuelles Interesse an einem Beisitzerposten. Der Piratenabgeordnete Christopher Lauer winkte – gefragt, ob nicht im Sinne einer besseren Koordination zwischen Landesverband und Abgeordnetenhaus-Fraktion einer der Abgeordneten sich um das Amt des Landesvorsitzenden bemühen sollte – nur grinsend ab: „Das mag für klassische Parteien eine nette Idee sein, bei uns ist das erstens nicht durchsetzbar, zweitens verlieren wir damit effektiv eine Person für unsere Arbeit im Parlament.“

So aber stehen den Berliner Piraten, die bei einer Vorstandssitzung am Sonntag erste bindende Entscheidungen bezüglich des weiteren Vorgehens treffen können, unruhige Zeiten ins Haus: mit einem Vorstand auf Abruf, der für den bedeutsamen Bereich der IT wohl auf die Hilfe des polarisierenden Alexander Morlang zurückgreifen wird – an diesem Abend noch Semkens Begleiter. Und mit dem Druck, eine Lösung zu finden, die den im letzten Jahr gewaltig gewachsenen Aufgaben gerecht wird. Zuletzt: mit einer neuerlichen Diskussion darüber, was die Aufgabe eines Landesvorstands der Piraten ist – und ob es angesichts der im letzten Jahr vervielfachten Mitgliederzahl auch eines größeren Vorstands bedarf. Diese Diskussionen werden die Piraten, nachdem es nun zunächst einmal darum gehen wird, ob es tatsächlich keine vorgezogene Landesmitgliederversammlung geben wird, noch intensiv beschäftigen. Allein Hartmut Semken hat sie – stilecht skurril mit donnerndem Motorenlärm – hinter sich gelassen.

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