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„Kinder, die zu Hause Gewalt erleben, leben in permanenter Angst“, sagt Pädagogin Brigitte Seifert.

© Patrick Pleul/dpa

„Kennt ihr das auch?“: So lernen Berliner Kinder, häusliche Gewalt zu erkennen

In der Pandemie sind Kinder zunehmend von häuslicher Gewalt betroffen. Ein Berliner Verein versucht, ihnen zu helfen.

Eigentlich ist ihr Vater super, findet Betty. Jeden Sonntag geht er mit ihr und ihrem Bruder Fußball spielen. Doch eines Nachts wacht Betty auf, weil sich ihre Eltern laut streiten. Sie hört ein Krachen, am nächsten Morgen hat Bettys Mutter blaue Flecken am Arm.

Sie sei die Kellertreppe hinuntergefallen, sagt sie. Oft schreit Bettys Vater jetzt ihre Mutter an, eines Nachts poltert es wieder. Betty hält es nicht mehr aus – und ruft die Polizei. Wenig später muss ihr Vater aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen. Nun hat ihre Mutter keine blauen Flecken mehr. Und Betty kann ruhig schlafen.

Sie ist eine von mehreren Protagonist:innen der Kurzfilmreihe „Kennt ihr das auch?“, Cartoons, in denen Kinder verschiedene Formen häuslicher Gewalt erleben. Für Brigitte Seifert und Oliver Hagemann sind die bunt illustrierten Figuren wichtige Mitarbeiter:innen.

Die beiden Pädagog:innen arbeiten im Präventionsteam der „Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen“ (BIG), zusammen mit weiteren Kolleg:innen geben sie regelmäßig Workshops an Grundschulen. Ihr Thema: Häusliche Gewalt.

„Wir nutzen die Geschichten von Betty und den anderen Filmfiguren als Einstieg in das Thema, nachdem wir bereits mehrere Tage mit den Kindern vorbereitend gearbeitet haben“, erklärt Hagemann. „Zusammen schauen wir die Kurzfilme und versuchen, über diese Geschichten in eine Diskussion zu kommen: Was passiert den Kindern im Film? Wie fühlen sie sich? Und wo suchen sie sich Hilfe?“

[Diese Recherche ist Teil einer Kooperation des Tagesspiegels mit CORRECTIV.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt. CORRECTIV.Lokal ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV, das sich durch Spenden von Bürger:innen und Stiftungen finanziert. Mehr unter correctiv.org/haeusliche-gewalt.]

Die eigenen Gefühle spüren und ernst nehmen – das ist ein zentrales Motiv der Workshops von Seifert, Hagemann und ihren Kolleg:innen. Seit 2006 finden die Kurse an Berliner Grundschulen statt, finanziert von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.

Rund 260.000 Euro stellt sie in diesem Jahr für die Grundschul-Workshops zur Verfügung. Inzwischen geben die Teams der BIG auch Kurse für Schulpädagog:innen an Grund- und weiterführenden Schulen. Als Berliner Pilotprojekt gestartet, ist es das deutschlandweit seit längstem laufende Programm seiner Art.

Kinder die Gewalt erleben, leben in Angst

Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Das bestimmt sowohl die UN-Kinderrechtskonvention als auch, seit 2000, das Bürgerliche Gesetzbuch. „Formal beschreibt häusliche Gewalt psychische, physische, ökonomische oder soziale Gewalt zwischen Erwachsenen in einer partnerschaftlichen Beziehung“, erklärt Seifert. Richtet sich die Gewalt gegen Kinder, fällt sie juristisch nicht unter häusliche Gewalt, sondern Kindesmisshandlung.

„Kinder, die zu Hause Gewalt erleben, leben in permanenter Angst“, sagt Brigitte Seifert. Sie können nicht wissen, wann die Situation wieder eskaliert. Außerdem sind Täter:innen meist Vertrauenspersonen, von ihnen brauchen Kinder Sicherheit und Halt. Häusliche Gewalt verletzt dieses Bedürfnis, erklärt die Pädagogin.

Brigitte Seifert unterstützt Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern.
Brigitte Seifert unterstützt Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern.

© Kitty Kleist-Heinrich

Das hat ganz akute Auswirkungen: Kinder sind müde und traurig, können sich in der Schule nur schwer konzentrieren und sind leicht abgelenkt. „Auf Dauer kann das zu Lernschwierigkeiten führen“, sagt Seifert. „Einige Kinder kapseln sich emotional regelrecht ab, um die Situation irgendwie zu überstehen.“ Und: Manche Kinder übertragen die Muster von zu Hause auch in eigene Freundschaften, erleben es als normal, Gewalt auszuüben oder von anderen hinzunehmen.

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Häusliche Gewalt ist weit verbreitet – und die Corona-Pandemie hat die Lage wohl noch verschlimmert. So suchten im vergangenen Jahr 1661 Betroffene Hilfe in der Gewaltschutzambulanz der Charité, acht Prozent mehr als 2019. Fälle, in denen Kinder betroffen waren, sind im Vergleich sogar um über 14 Prozent gestiegen, 405 Fälle waren es 2020. Die Notruf-Hotline der BIG registrierte in den Wochen nach den Lockerungen des erstens Lockdowns gut 30 Prozent mehr Anrufe als im Vorjahreszeitraum, 715 allein im Mai 2020 – wohl weil die bessere Kontrollmöglichkeit der Täter:innen kurz zuvor Anrufe verhindert hatten.

Die Workshops der BIG finden in der vierten bis sechsten Klasse mit zehn- bis zwölfjährigen Kindern statt. „Da müssen wir erst einmal ein Bewusstsein schaffen, was Gewalt überhaupt heißen kann“, sagt Brigitte Seifert. Oft kleben die Pädagog:innen dazu mit Kreppband eine lange Linie auf dem Klassenboden.

Dann schildern sie den Kindern verschiedene Situationen: Ein Mann verbietet seiner Frau, ihre Familie zu besuchen. Die Mutter beschimpft den Vater als Nichtsnutz und Versager. Die beste Freundin bekommt eine Ohrfeige, weil sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt hat. Nach jeder Beschreibung stellen sich die Kinder auf die Linie, je nachdem wie sie die Situation einschätzen: „Gewalt“ bedeutet das eine, „keine Gewalt“ das andere Ende des Kreppbands – mit beliebigen Abstufungen dazwischen.

Gewalt kann mehr sein als der Schlag ins Gesicht

Die Szenen schildern körperliche ebenso wie soziale oder psychische Gewalt. „Wir wollen den Kindern nahezubringen, dass Gewalt weit mehr sein kann, als der Schlag ins Gesicht“, sagt Seifert. Auch, aber weniger intensiv thematisieren die Pädagog:innen ökonomische Gewalt, wenn also finanzielle Abhängigkeit ausgenutzt wird, um zu kontrollieren oder Macht auszuüben. „Dafür fehlen den Kindern in diesem Alter dann doch die Grundlagen.“

Die Workshops sind spielerisch und interaktiv, es gibt Rollenspiele und gemeinsame Übungen. Die Kinder können miteinander diskutieren und ihre Eindrücke austauschen. „Es hat eine ganz andere Kraft, wenn nicht ich, sondern ein Kind selbst sagt: Was in dieser Situation passiert, tut mir im Herzen weh“, findet Oliver Hagemann. Dazu bekommen die Kinder konkrete Informationen: Mit den BIG-Pädagog:innen überlegen sie, wer ihnen im Notfall helfen könnte und die Klasse ruft zusammen beim Kindernotdienst an.

[Die Kurzfilmreihe "Kennt ihr das auch?" finden Sie unter youtube.com/user/BIGeVBerlin, weitere Infomaterialien gibt es unter gewalt-ist-nie-ok.de.]

„Das kenne ich von zu Hause, ist doch ganz normal“ – auch solche Sätze hören Seifert und Hagemann immer wieder, wenn sie mit den Kindern über häusliche Gewalt sprechen. Sie versuchen dann abseits der Gruppe nachzuhaken: Wird zu Hause viel gestritten? Schreit dabei jemand, schlägt oder wirft mit Gegenständen? Erlebt das Kind selbst Gewalt, möglicherweise sogar am eigenen Körper?

Die Pädagog:innen müssen in solchen Situationen abwägen: Gibt es Anzeichen häuslicher Gewalt und den Kindern droht akute Gefahr, muss die Schule direkt das Jugendamt einschalten. In den meisten Fällen wird erst einmal ein Gespräch mit den Eltern angebahnt.

Über Gewalt ehrlich und offen zu reden, ist nicht einfach. Die Pädagog:innen brauchen das Vertrauen der Kinder, müssen erkennen und eingreifen können, wenn es jemandem nicht gut geht. In Zoom-Sessions funktioniert das kaum, seit November letzten Jahres setzen die Workshops deshalb aus. „Wir versuchen natürlich, unsere Zielgruppe weiterhin zu erreichen“, sagt Seifert.

So gibt das Team von BIG-Prävention nun vermehrt Onlinekurse für Schulpädagog:innen. Die Nachfrage sei, berichtet Seifert, in den letzten Monaten stark gestiegen. Und sie haben, neben einer Reihe weiterer kindgerechter Infomaterialien, die Kurzfilmreihe "Kennt ihr das auch?" online gestellt. Die Filme mit Betty und den anderen Kindern sollen Schüler:innen auch jetzt die Möglichkeit geben, ihre Situation einzuordnen.

Wann die Workshops wieder beginnen können, wissen Seifert und Hagemann noch nicht. Derzeit geht es vor allem darum, die Wissenslücken aus dem Homeschooling zu schließen. Weitergehen wird es aber - die Warteliste ist über den Winter stetig gewachsen.

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