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Berlin: Klaus Polzin (Geb. 1940)

Ausdauernd, diszipliniert, Schritt für Schritt, vorwärts, immer vorwärts

Ein ganzes Brot, nur für sich alleine, was für eine Vorstellung. „Mama“, sagt Klaus, sechs Jahre ist er da alt, „Mama, ich wünsch’ mir zu Weihnachten ein Brot.“ Es sind die Jahre des Überlebens, die Zeit nach 1945 in Berlin. Weil ihr Haus nicht mehr steht, wie die halbe Stadt nicht mehr steht, sind sie anderswo zwangseingewiesen worden. Sie hungern, sie frieren, aber immerhin haben Klaus, seine Schwester, seine Mutter ein Zimmer und sie haben sich.

Der Vater ist im Krieg geblieben, die Mutter strampelt, ihre Kinder durchbringen, allein das zählt. Ein Glück, dass sie eine Stelle bei Schering bekommt. Ein Pech, dass es das Fließband ist. Pillen einpacken, zehn Stunden hintereinander weg. Der Lärm und die Akkordarbeit, wie fertig sie gewesen sein muss nach so einem Tag. Doch das Weihnachtsbrot kaufte sie ihrem Sohn. Duftend und rund und wie versprochen: ein ganzes Brot für Klaus allein.

Seine Schwester hält sich raus, die Mutter muss arbeiten, also tut Klaus seine Pflicht und kümmert sich um den kleinen Bruder. Der neue Partner der Mutter war, als sie schwanger wurde, einfach abgetaucht. Klaus füttert, Klaus spielt, Klaus pflegt den Bruder mit Windpocken und Keuchhusten. Er ist ein großer Bruder und ein Vater und selber noch ein Kind.

„Darf ich bitten?“, fragt Klaus das Mädchen. Die Musik schwirrt, die Paare drehen sich. Der „Prälat“ ist ein angesagter Tanzpalast in Schöneberg mit mehreren Sälen und Kapellen. Sie sieht zu ihm auf. Der ist interessant. Dieses offene Gesicht und diese blauen Augen und dazu die langen Wimpern. Und groß ist er auch, denkt sich Ingrid und reicht Klaus die Hand. Noch beim Drehen und Schwingen verabredeten sie sich. Sein Mund ganz nah an ihrem Ohr.

Sie sehen sich wieder. Theater, Tanz, Kabarett. Sie reden und reden. Er bringt sie jeden Abend mit der Straßenbahn nach Hause, mit der 74 vom Zoo nach Lichterfelde. Eines Abends regnet es dicke Tropfen, er spannt den Regenschirm auf, sie stehen drunter, sie kuscheln sich aneinander, dann küssen sie sich zum ersten Mal.

Heirat in Weiß und Schwarz mit Myrte am Revers. Das erste Kind, ein Sohn. Eine eigene Wohnung. Von der Lehre als Industriekaufmann zur Verwaltung bei der Polizei. Zweites Kind, eine Tochter. Ein Haus. Ausflüge, Urlaub, Klaus ist ein guter Marathonläufer: Ausdauernd, diszipliniert, Schritt für Schritt, vorwärts, immer vorwärts, mit Pflichtbewusstsein, Disziplin, was getan werden muss, wird getan. Er wird Regierungsamtsrat beim Statistischen Bundesamt.

Ein Buch rüttelt sie auf. Anfang der Achtziger, die „Grünen“ gründen sich, die Ökobewegung beginnt zu atmen, Ingrid und Klaus lesen über das Waldsterben. Er sagt: „Wir müssen was tun.“

Und tritt einer kleinen Ökotruppe bei, dem BUND. Die erste Berliner Geschäftsstelle zieht in seinen Keller. Das Familienleben besteht von nun an aus Plenum, Protest, Transparenten und Plakaten. Sie demonstrieren gegen das Kohlekraftwerk Buschhausen, das seinen Dreck ungefiltert in die Luft bläst. Gegen Autos in der Stadt. „Lärm und Gestank machen uns krank“, ruft er, ordentlich im Anzug zwischen den Ökohippies, in das Megafon. Als seine Tochter sagt, dass er nicht gegen Autos demonstrieren und gleichzeitig eines besitzen könne, schafft er sein Auto ab. Dann wird er Vegetarier und fängt an, sein Brot selbst zu backen, Säckeweise steht das Korn in seinem Haus. Und er wird BUND-Vorsitzender, acht Jahre lang.

Seit 2009 wird es merkwürdig mit Klaus. Erst fehlen ihm die Worte. Am Telefon antwortete er wirsch. Wenn sich die Familie trifft, die Enkel alle da sind, ist er ganz still. Demenz lautet die Diagnose.

Ihr Klaus doch nicht. Der war doch immer kerngesund. Der wollte mindestens 100 Jahre werden. Ingrid sorgt sich, sie pflegt ihn, doch als sie es nicht mehr schafft, zieht Klaus in ein Heim. Nur für ein paar Wochen, doch ihm gefällt es dort, und er bleibt.

Einmal noch fährt sie ihn im Rollstuhl spazieren. Es regnet dicke Tropfen. Nun ist sie es, die den Regenschirm aufspannt. Die ihm einen Kuss gibt. So hatte alles angefangen und nun würde es so enden. Sie spürt es.

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