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Kolumne "Meine Heimat": Wie sich das Reiseverhalten der Deutschen verändert hat

Hatice Akyün reist durchs Land. Früher hätte sie dabei neue Geschichten gefunden. Heute schottet sich jeder von jedem ab. Leider kein Erlebnis für unsere Autorin.

Seit Jahren reise ich für Lesungen durch Deutschland. Es gibt Begegnungen, die lassen mich die langen Zugfahrten, menschenleeren Bahnhöfe und kargen Hotels vergessen. In der vergangenen Woche kam ich mit einem älteren Herrn ins Plaudern. Er erzählte mir von seinem Enkelsohn, der in diesem Jahr eingeschult wurde. Der Großvater fragte den Erstklässler, ob denn auch Kinder in seiner Klasse seien, deren Eltern aus anderen Ländern kämen. Der Junge antwortete: „Mir ist nichts aufgefallen, Opa.“ Einige Tage später holte der Großvater ihn von der Schule ab und sah, dass der Sitznachbar seines Enkelsohns ein Junge mit dunkler Hautfarbe ist.

Wenn die Welt in der Wirtschaft zusammenkommt, nennt man das Globalisierung. Aber wie nennt man es, wenn Menschen sich begegnen? Im Zug dachte ich an Willy Loman, den Familienvater aus „Tod eines Handlungsreisenden“. Komisch, schon als Jugendliche konnte ich ihn mir ziemlich präzise vorstellen. Ein müder, abgekämpfter Mann, mit hängenden Schultern in einem zerknautschten Regenmantel und zwei abgewetzten Musterkoffern seiner Waren.

Die modernen Willy Lomans treffe ich nun regelmäßig im Zug. Sie tippen in ihre Notebooks, wühlen in Unterlagen, scrollen sich durch Excel-Tabellen und haben sich von den umgebungsbedingten Zwängen in vollen Waggons befreit. Rollladen runter und ganz eins mit dem Broterwerb und der Kiste. Um sie herum sitzen ältere Damen, die brav in Büchern lesen, deren Titel ihnen Bestsellerlisten vorgegeben haben. Das Rückgrat der deutschen Buchbranche scheinen ältere Damen mit dem Packset Zugfahrkarte und Buch zu sein.

Wer viel reist, weiß viel

Es ist interessant, wie sich das Reiseverhalten der Menschen verändert hat. Früher habe ich auf Zugreisen Menschen kennengelernt und oft genug Stoffe für meine Bücher gefunden. Die Geschichten gaben mir Einblicke, die ich sonst wohl nirgendwo bekommen hätte. Heute schottet sich jeder von jedem ab. Leider habe ich mich der neuen Zeit noch nicht anpassen können. Weder arbeite ich gerne im Zug, da ich dafür meine gewohnte Umgebung brauche, noch nutze ich die Zeit für Entertainment jedweder Art. Und zu beobachten fällt mir zunehmend schwerer, da es immer weniger zu betrachten gibt.

Bis auf das eine Mal, als eine Gruppe Franzosen einen IC überfiel und den Speisewagen zum Erliegen brachte. Während der Deutsche in irgendeiner Brötchen-Form Kalorien zu sich nimmt, gehört für den Franzosen das Essen und Trinken zur geselligen Reise. Der Weißwein, das Wasser, der Salat, das Hauptgericht und das Dessert, nebst Espresso und Cognac. Der „Clash of Cultures“ war perfekt, da es in den Ablaufplänen der Deutschen Bahn nicht vorgesehen ist, dass man mit Lust und Freude reist und somit das Service-Personal restlos überfordert.

Ich glaube, wenn wir die Welt mit dem unverstellten Blick des Erstklässlers sehen könnten, dann wäre auch das Reisen wieder ein Erlebnis. Oder wie mein Vater sagen würde: „Cok yasayan degil, cok gezen bilir.“ Nicht, wer lange lebt, sondern wer viel reist, weiß viel.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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