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Guter und schlechter Berlin-Lärm: Lasst es richtig krachen!

Es gibt guten und es gibt schlechten Lärm in Berlin: die Symphonie der Großstadt und den Soundtrack der Rücksichtslosigkeit. Ein Plädoyer für das schöne Geräusch.

Von Markus Hesselmann

Besichtigungstermin in Wedding: Das Pärchen, das unsere Dachgeschosswohnung übernehmen möchte, erkundigt sich, ob denn eine Kirche in der Nachbarschaft sei. Die Glocken, wissen Sie, das Gebimmel ..., man sei lärmempfindlich und wolle deshalb wissen ... Herrgott, diese Spießerfreaks – schwarze Kleidung, Turnstiefel, Mann mit Zopf – sind viel schlimmer als die guten alten Spießbürger, denke ich so vor mich hin. Und dass T. S. Eliot recht hatte, als er unsere antispirituelle, traditionsvergessene Gesellschaft im Monumentalgedicht als „Waste Land“, Wüste, Ödnis porträtierte.

Über Leute, die sich über Lärm aufregen, regt man sich so lange auf, bis man sich selbst über Lärm aufregt. Mich persönlich bringen keine Kirchenglocken, aber dauerbellende Hunde zur Weißglut. Oder testosterongesteuerte Mitbürger, die nächtens die Tempo-30-Schilder vor unserer Haustür nicht als Aufruf zur Mäßigung, sondern als Ansporn zu mehr Tempo und höherer Drehzahl interpretieren.

Ich bin fest davon überzeugt, dass es guten und schlechten Lärm gibt: Die Symphonie der Großstadt, wie sie sich über Jahre und Jahrzehnte komponiert hat – und den Soundtrack der Rücksichtslosigkeit, der sich bei uns in Berlin penetrant Gehör verschafft. Neben Rasern und Hundefreunden steht dafür jener Nachbar, der sich zu meinen Neuköllner Zeiten einen Spaß daraus machte, in tiefster Nacht fette Böller in den hallenden Hinterhof zu werfen. Und zwar immer nur einen pro Nacht. Als er dann einmal frühmorgens besoffen nach Hause kam, bis zum Anschlag Abbas „Dancing Queen“ aufdrehte und aufs Klopfen hin nicht öffnete, rief ich die Polizei. Zu meiner Verteidigung: Es war das bisher einzige Mal in 23 Jahren Berlin.

Es gibt aber auch einen Lärm, der zu uns Städtern gehört und den Neil Diamond, der grandiose Gentry-Popper, als „Beautiful Noise“ besungen hat: Den Sound der Straße – ja, auch der Autos, die den urbanen Alltag, der ohne Raserei ganz wunderbar auskommt, mit einem gleichmäßigen, fast schon beruhigenden Hintergrundgeräusch untermalen. Die Züge der Bahn, die dem Klang einen Rhythmus geben. Und die Kinder, deren Spiele und Lieder das unverstellt Menschliche ausdrücken.

Doch das kann nicht alles sein: Berlin ist eine Musikstadt, die Stadt der Philharmoniker, Hanns Eislers, David Bowies, der Scherben, der Einstürzenden Neubauten, der Ärzte, der Beatsteaks oder des Elektroprojekts Moderat. Musik ist in Berlin überall: Bei uns im Hinterhof – inzwischen sind wir aus dem Wedding in den Norden Schönebergs gezogen – wird eine freikirchliche Gemeinde nach ihrer Fasson selig. Ihre Gottesdienste gestalten die Gläubigen, nun ja, musikalisch. Ausgiebig und mindestens zweimal die Woche. Neulich spielte im Hinterhof stundenlang eine Gospelband. Es fehlte nur noch, dass Elwood Blues vorbeikam. Ich schrieb darüber auf Facebook. „Bestimmt stößt die Reggaeband von gegenüber demnächst dazu!“, postete daraufhin eine Freundin, die selbst in Musik macht. Sie wohnt auf der anderen Straßenseite über einer Kneipe, die sich neuerdings auch als Musikclub versteht. Was das Wohnzimmer unserer Freundin in einen Resonanzkörper verwandelt. Ihre höflich vorgebrachten Anregungen, vielleicht baulich ein bisschen was für den Lärmschutz zu tun, ignorieren die Clubbetreiber. Das Problem wäre im Einvernehmen zu lösen, doch das scheitert an der Rücksichtslosigkeit einer Seite.

Genauso rücksichtslos aber ist es, in einen Szenekiez zu ziehen und dort auf die Schließung von Clubs hinzuwirken, die sich alle Mühe geben, Partylaune und angemessenen Lärmschutz unter einen Hut zu bekommen. Oder neben einen Sportplatz und dann den Fußballern mit Lärmklagen dazwischenzugrätschen. Sogar das, was sich im Olympiastadion so abspielt, wird von Anwohnern nicht als Kulturleistung, sondern als verklagenswerter Krach angesehen. Obwohl dort deutlich seltener etwas passiert als in meinem Hinterhof.

Die Hinterhofkirche war nun einmal vor mir da. Und selbst wenn sie nach mir gekommen wäre, müsste ich noch bedenken, dass ich mitten in der Stadt wohne, in einem Kiez, der schon lange vor meiner Ankunft bunt war und laut. Ich hätte auch nach Herms- oder Mahlsdorf ziehen und die Ruhe genießen können. Wer für Innerstädtisches keine Antenne hat, sollte sich am Stadtrand oder im Umland ansiedeln. Auch dort gibt es komfortablen und bezahlbaren Wohnraum.

Selbst der Fluglärm gehört zur besonderen Geschichte der Mauerstadt, die sich nicht wie andere Metropolen geografisch weiterentwickeln konnte und jahrzehntelang mit zwei innerstädtischen Flughäfen lebte. Vor dem Hintergrund wirken die Massenproteste, Menschenketten und Montagsdemonstrationen gegen eine ohnehin geringere Lärmbelästigung durch einen Stadtrandflughafen befremdlich. Ich selbst habe in den Einflugschneisen Tegels und Tempelhofs gewohnt. Auch der Sound der Flieger hat für mich etwas Urbanes.

Dagegen gehört ein Hund, der stundenlang den Mond oder sonst was anbellt, auf den Bauernhof oder zumindest in ein Vorstadt- oder Umlandhaus mit Garten. Da ist er näher beim Wolf, da darf er sein. Bald ziehen wir wieder um. Ins etwas ruhigere, aber immer noch urbane Wilmersdorf. Als wir kürzlich die neue Wohnung ausmaßen, um die Renovierung vorzubereiten, begann in der Nachbarswohnung ein Hund zu bellen. Und hörte nicht auf, stundenlang. „Der Hund bellt immer“, schrieb schon Kurt Tucholsky. Jedenfalls immer, wenn er in einer Stadtwohnung zurückgelassen wird. Diese auch in Berlin verbreitete Praxis müsste doch eigentlich Scharen von Tierschützern auf die Barrikaden bringen. Dieser Hund jedenfalls wurde so kirre, dass es ihm durch dauerndes Davorspringen gelang, die Balkontür der Hochparterrewohnung zu öffnen. Hochtonig kläffend, Zähne fletschend und um sich selbst kreiselnd irrlichterte das Tier durch Hof und Hausflur, bis es ein unerschrockener Nachbar einfing.

Ansonsten können wir Berliner froh sein über unsere massiven Bauten. In London lebte ich ein Jahr lang nur durch wenige Zentimeter Wand getrennt von Tierfreunden, deren zwei Dackel ständig jaulten. Nach diversen Debatten mit den Nachbarn wandte ich mich an die bezirkliche Behörde. Die schickte mir Vordrucke, mit deren Hilfe ich die Geräusche in der Nachbarwohnung protokollieren sollte. Eine jahrhundertealte Demokratie geht mit Überwachungsthemen unverkrampfter um, dachte ich, bevor ich die Formulare in den Papierkorb warf.

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