zum Hauptinhalt
Temperamentvoll. Redaktionskonferenz mit dem Chef der Lokalredaktion Günter Matthes 1964.

© Christoph Müller

Legendärer Lokalchef: Die Mission des Luftballons – eine Hommage an Günter Matthes

Wie Günter Matthes aus mir einen glücklichen Journalisten gemacht hat: Der Ex-Verleger des „Schwäbischen Tageblatts“ ehrt den legendären Tagesspiegel-Lokalchef.

Mit 22, da hat man noch Träume. Als gebürtiger Stuttgarter hatte ich bis dahin an der Tübinger Uni ziellos ein bisschen herumstudiert. Doch ich wusste, dass man kein Universitäts-Studium braucht, um das zu werden, was ich eindeutig werden wollte: Journalist. Erste Fingerübungen hatte ich schon für die Ulmer „Südwest Presse“ als 17-jähriger Theaterkritiker abgeliefert: Schnupperkurs, Abteilung Feuilleton. Jetzt sollte es aber jenseits aller väterlichen Protektion und diesseits jeder bevorzugten elitären Kunst-Affinität Ernst werden. Ich wollte das tagesaktuelle Allround-Schreibhandwerk von der Pike auf lernen. Außerhalb des schläfrigen Heimatländles, wenn ich bitten darf.

„Der Tagesspiegel“ mit seinem bis heute beibehaltenen Leitmotiv im Schilde „rerum cognoscere causas“, dochdoch, das könnte für mich zu einer Art Erweckungserlebnis werden. Also 1960 auf ins dramatisch geteilte Berlin, wo man traditionsgemäß Schwaben nicht leiden kann. Der „Tagesspiegel“-Verleger war aber wie ich waschechter Schwabe. Und es kam trotzdem alles ganz anders. Franz Karl Maier (FKM) wollte mich im siebten Jahr meines munteren Wirkens als einen seiner nur acht ohne Hinterland und ohne die andere Berlin-Hälfte haushalten müssenden Lokalredakteure fristlos rausschmeißen. Für ihn war es quasi eine Staatsaffäre, hatte ich doch in seinen Augen sträflich das eigene Nest beschmutzt.

Doch zunächst mal ein Jahr lang Lehrling, das kein Herrenjahr sein kann, schon gleich nicht auf dem hart umkämpften West-Berliner Zeitungsmarkt, bei dem es so gut wie immer um Politik geht.

Dann  wg. guter Führung und sprichwörtlichem Schwabenfleiß vorzeitig zum Jungredakteur befördert. Mir wurde schnell hocherfreut klar: vom Leiter dieser Schrumpf-Lokalredaktion, dem 40jährigen Günter Matthes, konnte ich etwas lernen – was heißt da „etwas“? Alles! Am meisten zu schaffen machte mir in meinen ersten Berlin-Wochen, aus dem Stand als Jüngster im ganzen Haus an der Potsdamer Straße die vielen Namen meiner in den Fluren herumschwirrenden Groß-Kollegen auswendig zu lernen und richtig zuzuordnen. Selbst das war Günter Matthes nicht zu viel, mir mit Rat und Tat beizustehen und jedesmal meine Ratlosigkeit zu merken und mir mitten in der Konferenz den fehlenden Kollegennamen schmunzelnd ins Ohr zu flüstern.

Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel.
Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel.

© Christoph Müller

Zwischen seinem winzigen gläsernen Ein-Mann-Büro und der Lokalredaktion saß die von mir alsbald einfachheitshalber „Herzchen“ genannte Chefsekretärin (eine andere gab's auch gar nicht) und versorgte als ausgebuffte Go-between den Chef mit allem, was er unbedingt wissen und essen  musste. Unser Gemeinschaftsraum hatte den zur Intimität verpflichtenden Umfang eines Dorfschul-Klassenzimmers. Schwaben, also auch unser allseits geachteter und bei schnell keimender Zornesröte gefürchteter Verleger, sind eben sparsame Leute. Das spürte man auch am Gehalt. Bei Springer, der übermächtigen Konkurrenz, verdiente man mehr. Aber wer von uns handverlesenen leidenschaftlichen Tagesspieglern wollte schon zu Springer?!

Auf Havelkreuzfahrt mit Udo Jürgens

Jede(r) von uns acht hatte mehrere Stadtbezirke und damit als Pflicht-einmal-pro-Monat die einschläfernden Bezirksverordnetenversammlungen abzusitzen. Ich bekam es zu tun immerhin mit dem lebhaft antibürgerlichen Kreuzberg und Tiergarten mit seinem ehrgeizigen und deshalb für reichlich Verköstigung der Pressevertreter sorgenden Ortsvorsteher Joachim Karnatz. Hauptsächlich aber war ich als eine Art „man for all seasons“ im Reporter-Einsatz.

[Wir blicken auf die ganze Stadt - von Spandau bis Marzahn-Hellersdorf: In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Ich durfte in Badehose Freibäder miteröffnen, beeindruckt bei Polizeischulungen zugucken, Wochenmärkte in meinen zwei Kiezen auf ihr Angebot testen, im Spätdienst kurz vor Mitternacht die letzten Telefonate unseres Polizei-Reporters noch ins Blatt rücken (Polizeimeldungen sind normalerweise der meistgelesene Stoff jeder Lokalredaktion), die Notizzettel des amerikanischen Vize-Präsidenten Humphrey über dessen Schulter hinweg bei der Eröffnung der Philharmonie ausspionieren, aufsässigen Studenten beim lautstark antiamerikanischen Demonstrieren aus dem Weg gehen, mit Udo Jürgens eine mehrstündige intellektuell herausfordernde Presse-Havelkreuzfahrt machen und Senta Berger in der Nationalgalerie vor einem halbnackten Böcklin-Gemälde staunen sehen, über die Lesung von Alfred Polgars Wiener Glossen unter dem Titel „Die Mission des Luftballons“ in einer Kreuzberger Szene-Kneipe leicht beschwipst referieren, unter Denkmalschutz gestellte Friedhöfe nach Promis absuchen, in den Neuköllner Vergnügungssälen der „Neuen Welt“ Berliner Karnevals-Büttenreden („Mir bubt der Besen, ach nein, mir bebt der Busen“) ertragen und in der Spandauer Freiherr-vom-Stein-Schule Schüler mit Vize-Kanzler Erich Mende gesamtdeutsche Fragen diskutieren lassen („Ein Ding wie im Tollhaus“, so hieß mein Zweispalter, über den anderntags das SED-“Neue Deutschland“ mit einem Vierspalter genüsslich den „Tagesspiegel“ zitiert und anfügt: „Wie wir nicht aus dem Tagesspiegel erfuhren, soll bei dieser Mitteilung einer der anwesenden Schüler vor Rührung geweint haben. Mit tränenerstickter Stimme habe er den anderen zugemurmelt: 'Das ist wahre Freiheit!'“ Diese Mitteilung bestand daraus, dass Herr Mende den Mitgliedern der Bundesregierung das „Neue Deutschland“ sowie die „Berliner Zeitung“ freundschaftlich-hoffnungsfroh “zugeleitet“ habe, was offenbar als gewaltiger Fortschritt in den deutsch-deutschen Beziehungen gewertet werden musste).

Christoph Müller mit Senta Berger in der Neuen Nationalgalerie vor dem Bild "Die Freiheit" von Arnold Böcklin.
Christoph Müller mit Senta Berger in der Neuen Nationalgalerie vor dem Bild "Die Freiheit" von Arnold Böcklin.

© Sammlung Christoph Müller

Einer dieser Alltags-Termine galt der Eröffnung eines luxuriösen Uhren-Ladens am Kurfürstendamm. Abschließend erhielt jeder Presse-Vertreter eine wertvolle Uhr geschenkt. Einfach so. Ich zeigte die meinige teufisch grinsend in der Redaktion herum, auch dem Chef. Günter Matthes, der Unkorrumpierbare, reagiert wie erwartet: „Da hört sich ja wohl alles auf! Sofort zurückgeben! Und kein Wort über diese bestechende Art von Pressekonferenz kommt ins Blatt!“

[Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über Berlins Irrungen und Wirrungen. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de]

Stattdessen schrieb er ein glanzvoll süffisantes „Am Rande bemerkt“ über das peinliche Danaer-Geschenk und verdarb damit allen anderen Medienvertretern, die ein solch edles Uhrwerk fürs erste bedenkenlos eingesackt und nicht ihrem Chef gemeldet hatten, zumindest die Laune. Von ihnen wurde ich daraufhin bei Pressekonferenzen feindselig angefunkelt. Doch zur Belohnung für die entgangene Uhr durfte ich auf Bitte des stets überlasteten Vaters die beiden fünf und zwölf Jahre alten Matthes-Buben im Lochow-Damm-Freibad beaufsichtigen, ohne an diesem Tag zur Arbeit gehen zu müssen...

Copy and paste in analogen Zeiten

Die Medien und ich, ein weiterer am Rande bemerkter Höhepunkt. Im Dezember1966 fiel „-thes“ ein Geschenk des Himmels in den Schoß. Ich hatte in der Münchner  „Süddeutschen Zeitung“, meiner Lieblingslektüre, einen mir sehr vertrauten Text entdeckt. Obwohl ich liebend gerne selber im „Tagesspiegel“ darüber berichtet hätte, ließ ich nolens volens meinem Chef den Vortritt. Sein in der Presse-Landschaft Furore machendes „Am Rande bemerkt“ unter dem Titel „Gleichförmigkeit“ zitiere ich hier - weil's gar zu schön ist: Nimm das, Streiflicht! -  fast in voller Länge. So also Günter Matthes am 22.Dezember 1966 at his best:

„Wir lasen mit Interesse, was das Redaktionsmitglied der 'SZ', der Berliner Korrespondent Willi Kinnigkeit, am 12. September auf Seite 3 des Blattes über die Berliner Presse äußerte. Unter anderem dies: '...ist unbestritten, dass es in Berlin an einem journalistischen Spannungsverhältnis fehlt.' Ferner schrieb er über den 'Unmut über die Gleichförmigkeit der Berliner 'Meinungsmache', die nicht zuletzt darauf beruht, dass Berlin wegen seiner Abgeschlossenheit journalistisch immer mehr verprovinzialisiert. Die Zeiten jedenfalls, da die alte Hauptstadt journalistisch Blutspender für ganz Deutschland war, sind längst vorbei.' Darüber wollten wir mit Kinnigkeit nicht streiten. Doch fiel es uns wieder ein, als wir anhand einer gewissen Gleichförmigkeit von Artikeln jüngeren Datums im Tagesspiegel und in der 'Süddeutschen Zeitung' feststellen mußten, dass die alte Hauptstadt, wenn schon kein Blut, so doch Zeilen spendet. Einen gewissen Unmut können wir dabei nicht verhehlen. Am 6. Dezember berichtete unser Lokalredakteur Christoph Müller über die Eröffnung der 'Komischen Oper' in Ost-Berlin. Der Artikel muss Kinnigkeit gefallen haben. Er berichtete über dieses Ereignis 14 Tage später ohne Zitierung einer anderen Zeitung unter seinem vollen Namen. Zum Vergleich Müller: Walter Felsenstein steht auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und ist deshalb in Sachen Kunst derzeit das blankeste Aushängeschild der 'DDR'-Propaganda. Er hat heute in Ost-Berlin freie Hand wie kein anderer Künstler seit Brechts Tod. Seine Komische Oper ist für das Musiktheater, was das Brecht-Ensemble für das Schauspiel ist: konkurrenzlos auf der ganzen Welt in seiner konsequenten stilbildenden Eigenart. Kinnigkeit: ...erwies sich die Ost-Berliner Komische Oper als konkurrenzlos auf der Welt in ihrer stilbildenden Eigenheit...Auf der Höhe seines Ruhmes gelang es Felsenstein...seine Komische Oper war und ist schließlich das blankeste Aushängeschild der DDR-Kultur.Wie kein anderer Künstler in der Zone hat er denn auch heute freie Hand. Sein Theater in Ost-Berlin ist für das Musiktheater das, was das Brecht-Ensemble für das Schauspiel ist.“

In der Folge zitiert Matthes lässig noch drei genauso verdammt buchstabengleiche Müller/Kinnigkeit-Passagen und schließt dann so: „Aus so viel Gleichförmigkeit ergibt sich natürlich ein journalistisches Spannungsverhältnis und ein juristisches zwischen Müller und Kinnigkeit. Wir neigen nicht dazu, den Berliner Korrespondenten und Redakteur der 'SZ' mit München zu verwechseln.Wir verstehen jetzt besser, wen Kinnigkeit meinte, als er am 12. September schrieb: 'Es verdingen sich kaum mehr journalistische Potenzen nach Berlin.' Wir fragen uns nur, ob Kinnigkeit bei dieser Arbeitsweise qualifiziert erscheint, auch nur aus der Provinz zu berichten.“

Das "Gammler"-Feuilleton und seine Folgen

Der meisterliche Abschreiber hat sich nie bei mir gemeldet und entschuldigt. Dagegen sein Arbeitgeber sehr wohl, die von mir noch immer geliebte „SZ“. Sie bescheinigte ihrem Mann totales Versagen und bot mir eine Geldsumme an – als Ausfallhonorar? Schadenersatz? Schmerzensgeld? Ehrensold? Zeilengeld? Geklauten O-Ton? Jedenfalls habe ich dankend verzichtet mit der Bitte, lieber künftig keine Schreiberlinge aus der Provinz mehr hochmütig als geistig minderbemittelt ächten zu lassen angesichts dessen, dass ihr Hauptstadt-Starjournalist einem Jungredakteur aus der Provinz wohl nicht einmal zutraut, ihm auf die verhängnisvollen Schliche kommen zu können, vom genüsslichen Rächer -thes ganz zu schweigen...

Doch bald darauf sollte ich selber in höchste Verlegenheit kommen und meinem co-patriotischen Verleger an Eides statt versichern müssen, dass ich so etwas nie wieder tun werde. Ich hatte nämlich ausgerechnet im von Hellmuth Karasek geleiteten Feuilleton der „Stuttgarter Zeitung“, von der Franz Karl Maier im Unfrieden geschieden ist, einen Bericht geschrieben über das, was sie im Vorfeld der sich daraus entwickelten Ausserparlamentarischen Opposition (Apo) in Berlin allgemein hetzerisch als „Gammler“ bezeichneten. Ich sagte Karasek, dass ich dies nicht dürfe, weil in meinem Tsp-Vertrag mir ausdrücklich nur die heimatliche Provinz(!)-Kopfzeitung „Südwest Presse“ und „Theater heute“ nebenher erlaubt seien. Macht nix, so Karasek, lassen wir es eben unter dem Pseudonym eines von ihm schöpferisch erfundenen „Christian Lemur“ erscheinen.

In dem „Gammler“- Feuilleton hatte ich vom weißgott provinziellen (!) Verhalten der West-Berliner Obrigkeit kundgetan und dabei auch unvermeidlich cum ira et studio den Tagesspiegel mit den Springer-Gazetten verglichen. Nicht dass dies mich sonderlich überrascht hätte, aber weh tat es mir schon, dass sie schaumschlagend fast gleichlautend in der Tendenz waren.

Der ziemlich weit rechts positionierten Politik-Redaktion unter Joachim Bölke, dem Intimfeind meines mir auch politisch nahestehenden (links-)liberalen Chefs, passte das nicht und so recherchierte sie auf eigene Faust in Stuttgart, wer denn dieser Lemur sei. Die Sonne brachte es an den Tag, Karasek und ich wurden gleichzeitig von unseren jeweiligen Verlegern mit Kündigung bedroht und FKM ließ mich, den er als „üblen Nestbeschmutzer“ titulierte, zappeln. Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen, wiewohl ich nichts anderes getan hatte, als den sich gern als liberal bezeichnenden Tagesspiegel unkommentiert zu Wort kommen zu lassen. Dank einer  Matthes-Intervention durfte ich dann doch bleiben (derweil Karasek in Stuttgart freiwillig ging und bei der „Zeit“ seine Karriere fortsetzte).

Christoph Müller am Gendarmenmarkt 1963. Er hatte als einziger der Berlinredaktion einen bundesdeutschen Pass und konnte deshalb nach Ost-Berlin einreisen und von dort berichten.
Christoph Müller am Gendarmenmarkt 1963. Er hatte als einziger der Berlinredaktion einen bundesdeutschen Pass und konnte deshalb nach Ost-Berlin einreisen und von dort berichten.

© Privat

Weil ich als einziges Redaktionsmitglied einen westdeutschen Pass hatte, konnte ich mitten im Kalten Krieg zwischen Ost und West ungehindert in die Hauptstadt der von allen West-Berliner Medien nur in Gänsefüßchen existierenden DDR einreisen. Das tat ich dann auch und baute mir vor Ort, lange Zeit unbemerkt von den Grenz-Bewachern der DDR, ein meist sehr zuverlässiges Informanten-Netzwerk auf (nur dass der im Entstehen begriffene Fernsehturm bald einstürzen werde wegen des instabilen Sandbodens, stimmte nicht – ich warte heute noch drauf, dass er's vielleicht doch noch tut oder zumindest gefährlich wackelt). Ich wurde für den Tagesspiegel zum regelmäßigen Ostberlin-Erkunder. Was das für Folgen hatte, das ist ein anderes Kapitel.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Nicht nur mein unmittelbarer Vorgesetzter Günter Matthes sah diese Entwicklung mit Wohlgefallen, zum Ende hin bat mich sogar der wieder versöhnte Verleger persönlich um eine mehrwöchige Sonntags-Serie mit jeweils einer ganzen exklusiven Seite über das im Westen so lange vernachlässigte Ost-Berlin in allen spannenden Lebenslagen. Und irgendwann wurde auch das ein abgeschottetes Eigenleben führende Feuilleton auf mich in der Matthes-Redaktion aufmerksam. Der grimmige Tsp-Mitherausgeber Walther Karsch, hauptberuflich brottrockener Theaterkritiker vom Dienst, grüßte mich auch im fünften Jahr auf dem Flur noch nicht; er war wohl hinreichend beschäftigt damit, seinem großen Rivalen von der Springer-Presse und vom RIAS, dem von mir herzlich bewunderten Gleiche-Stelle-gleiche-Welle-Friedrich Luft das Feld nicht kampflos zu überlassen.

Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel.
Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel.

© Christoph Müller

Umgänglicher dagegen die anderen Feuilleton-Granden: der klug wertkonservative Wolf-Jobst Siedler, der fontanehaft am grünen Strand der Spree lustwandelnde Hans Scholz als höchst gegensätzliche Doppelspitze des Feuilletons mit dem vielschreibend quirrligen Für-die-Moderne-Vorkämpfer Heinz Ohff und der introvertiert feinsinnige Musikkritiker Werner Oehlmann, der mir eine ganze Seite 3 (beim Tagesspiegel kam die Kultur direkt hinter der Politik!) überließ für ein Porträt von Lorin Maazel, dem genialischen neuen Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin.

Das ging dann Schlag auf Schlag: Hilfs-Interviewdienste bei den Filmfestspielen, Martin Walser heikel zu Gast bei der Ost-Berliner Evangelischen Akademie, alle Daten und Fakten über alle Ost-Berliner Bühnen und die Absetzung einer von der SED als dekadente Klassiker-Schändung verdammten „Faust“-Inszenierung am damals wieder vor dem BE als führendes Sprechtheater der DDR gefeierten Deutschen Theater.

Zurück nach Tübingen zum "Schwäbischen Tagblatt"

Doch Ende 1968 kam mein Abgang, nun vollausgebildet ging's zurück in die Heimat: das Tübinger „Schwäbische Tagblatt“, bis dahin alles andere als studenten-verstehen wollend, wurde allabendlich von militanten Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) am Ausliefern der Zeitung ge- oder wenigstens behindert. Jetzt sollte es der junge Müller, so wollte es der alte Zeitungsbesitzer-Müller, richten. Schritt für Schritt wechselte das Provinz(!)blatt die Richtung und kam damit auf die Erfolgsspur, die schließlich bis zu einem grünen Oberbürgermeister von Tübingen führte.

Und wem habe ich das indirekt zu verdanken? Meinen Lehr- und Wanderjahren von 1960 bis 1968 beim „Tagesspiegel“, wie er vom Herzstück der Zeitung aus, also dem Lokalen, für mich prägende Gestalt annahm in der Verkörperung durch Günter Matthes. Bei ihm wollte ich schon immer meine Dankesschuld abtragen. Wir haben uns nach meinem Heimgang zu den Schwaben aber nur noch zweimal gesehen, bevor er 1995  75jährig einem plötzlichen Herzschlag-Stillstand erlag.

Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel. Rechts von ihm Leonie Holz. Links von ihm die Chefsekretärin.
Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel. Rechts von ihm Leonie Holz. Links von ihm die Chefsekretärin.

© Christoph Müller

Hier nun meine späte Hommage an den mit Sicherheit bedeutendsten und fairsten Journalisten Berlins in den Sechziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mit seiner, egal was kommt, von 1954 bis zur Pensionierung 1990 im Alleingang locker vom Hocker täglich (!!!) geschriebenen Kommentar-Glosse „Am Rande bemerkt“ (vor dem Sommerurlaub seiner treuen  Follower-Leserschaft angekündigt mit jetzt nur noch „Am Strande bemerkt“) hat er deutsche Presse-Geschichte geschrieben. Er, ein gebürtiger Leipziger, ist damit, sag' ich's doch gleich frei heraus, der Urvater aller Hackes und Martensteins geworden. Den „Mü-“ (seine Kürzel-Erfindung für einen, der bis dahin unter „cm“ und pseudonym-versteckt „tg“ firmierte), also den Mü-  aus Tü- nahm er vom ersten Tag an mit offenen Armen auf.

Aus These und Antithese will nicht um jedem Preis Synthese werden

„Am Rande bemerkt“ darf sich lässig mit dem von einem halben Dutzend passender „SZ“-Geistesköpfe verfassten und seit 70 Jahren erscheinenden „Streiflicht“ messen. Es ist genausowenig wie das „Streiflicht“ eine mühsam witzelnde Intellektuellen-Geburt. Originalitätssüchtig mitunter schon, aber federleicht. Vom ersten Satz an den letzten Satz bedenkend. Deutliches Ziel die Schluss-Pointe. “Rerum cognoscere causas“ (im bildungsbürgerlichen Tagesspiegel sprach man gern exklusiv brockenweise Lateinisch), also die Ursachen der Dinge erkennen, verbunden mit „et audiatur altera pars“, also auch die Gegenseite anhören.

Das könnte leicht zu kompromisslerischer Unentschiedenheit führen, muss es aber bei Matthes nicht. Aus These und Antithese will nicht um jedem Preis Synthese werden. Matthes weiß nur zu gut, dass man es nicht allen Leuten Recht machen kann – er versucht es deshalb auch erst gar nicht.  Erziehungsberechtigt Lehrhaftes, gar zeigefingererhoben Oberlehrerhaftes liegt ihm zum Glück nicht, höchstens als Metapher.

Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel, in der Mitte Redakteurin Leonie Holz
Günter Matthes 1964, Leiter der Lokalredaktion des Tagesspiegel, in der Mitte Redakteurin Leonie Holz

© Christoph Müller

Günter Matthes war ein Mensch, der in sich ruht. Und aus der Stille kommt bekanntlich die Kraft. Obwohl, wenn er sich mal wieder im endlosen Machtkampf um die Tagesspiegel-Führunsspitze unbändig über den strammen Atlantiker-Kollegen Boelke aufregte, konnte er auch laut werden und das kriegt dann seine zitternd und zagend hinter ihm stehende Lokalredaktion schnell themawechselnd, solidar-mitleidig mit. Er ist gerne, aber nicht langanhaltend gesellig. Für ihn ist West-Berlin in jeder Beziehung die Welt und sozusagen seine Lebensaufgabe. Ein Familienmensch. Moralisch und sozial integer. Er liebt und pflegt Umgang mit Theaterleuten wie Martin Held oder der Kurfürstendamm-Komödien-Sippe Wölffer, wovon dann sein Sohn Ulrich profitieren konnte.

Mit dem nicht ungefährlichen Stilmittel Ironie kennt er sich aus. Legt er seine hohe Stirn in Falten, dann kann man stundenlang mit ihm über Gott und die Welt philosophieren, weshalb er mit mir bei der Lektüre meines Berichts über eine mysteriös-poetische „Mission des Luftballons“ ins ergiebig grüblerische Fachsimpeln geraten ist.

Mir fallen jetzt viele Eigenschaftswörter ein, die auf ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen zutreffen: gründlich, unterflächlich, anregend, aufmerksam, bohrend andersdenkend, korrekt, wortspielerisch, lebensklug, verhaltens-vorbildlich, erzählfreudig, überzeugungskräftig, vorzugsweise kurzbündig, verbindlich, empathisch, gerechtigkeitsbemüht, nichtrechthaberisch, konziliant tolerant, selbstbewusst kampfeslustig, wie angeboren fast unauffällig ironisch, manchmal ansteckend glücklich, doch manchmal auch nah am melancholischen Abgrund.

Kunstsammler und Mäzen Christoph Müller. Von 1960 bis 1968 war er zunächst Volontär, dann Redakteur in der Lokalredaktion des Tagesspiegel. Von 1969 bis 2004 war er Verleger und Chefredakteur des "Schwäbischen Tagblatt".
Kunstsammler und Mäzen Christoph Müller. Von 1960 bis 1968 war er zunächst Volontär, dann Redakteur in der Lokalredaktion des Tagesspiegel. Von 1969 bis 2004 war er Verleger und Chefredakteur des "Schwäbischen Tagblatt".

© imago images/Jens Koehler

Was man beruflich von ihm lernen konnte und was ich ganz bestimmt von ihm gelernt habe: Dass man sich, will man als Journalist beim Erklären der Welt etwas erreichen, ohne Geschwurbel klar und deutlich ausdrücken muss. Die Schrift, also die zumindest des Print-Journalisten gefestigte Sprache, muss in Inhalt und Form übereinstimmen, sonst wird’s nix. Günter Matthes war bei allem, was er schrieb, ein ausgewachsener Meister des eleganten Stils. Satzgegenstand, Satzaussage, punktum. Kein Wort zu viel und keins zu wenig. Und stets, bitte, dem auf Dauer doch einigermaßen kalkulierbaren Leser Auge in Auge gegenüberstehen, denn ihm und nur ihm kann alles (Schreib-)Interesse gelten.

"Am Rande bemerkt" als Vorbild für "Übrigens..."

Zurück in Tübingen, war ich matthes-infiziert. Auch ich jetzt ein gelernter Lokalredaktionsleiter. Auch ich wie Franz Karl Maier jetzt bis 2005 Zeitungsverleger. Und auch ich wollte nun täglich unsere Abonnenten mit einer unterhaltsamen oder politisch Farbe bekennenden Glosse beglücken, die statt „Am Rande bemerkt“ schlicht „Übrigens...“ hieß und zumindest theoretisch allen Redaktionsmitgliedern zur Verfügung stand (trotzdem war ich jedes Jahr, vom Vorbild -thes angespornt der mit den meisten Übrigensen).

Mein erstes „Übrigens...“ hatte den Titel „Unsere kleine Stadt“. Das wenigstens konnte ich auf keinen Fall von Berlin übernommen haben. Aber ansonsten: Meine Redaktion, üppig 25köpfig für Stadt und Landkreis Tübingen zuständig, verdrehte stöhnend die Augen, wenn der hauptstädtisch erfrischte Provinz(!)-Zeitungsboss sie gebieterisch nervte mit: „Also in Berlin beim Tagesspiegel haben wir das so gemacht...“ Meistens funktionierte es.

Christoph Müller

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false