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Berlin: Leo Domzalski (Geb. 1929)

Leben wie man liest, sich von Buch zu Buch verwandeln

Ein Ordner war betitelt: „In Bücher legen“, ein anderer Ordner: „Bücherwünsche“, beide waren recht dick. Der dritte hieß: „Bücher lesen“, der war sehr dünn, denn Leo Domzalski blickte auf ein langes Leben als Leser zurück. Die Lübecker Volksbücherei war bald zu klein für den Schüler, das bisschen Zugeld, das er sich als Statist am Stadttheater verdiente, reichte nur für wenige Neuerwerbungen; was lag da näher, als eine Buchhändlerlehre zu beginnen.

Im Jahr der großen Depression war Leo geboren worden. Der Vater Schlosser, die Mutter Dienstmädchen. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, liebevoll umsorgt, aber nicht selten hungrig, weil der Vater die Lebensmittelmarken gegen Zigaretten eintauschte.

Zu jung, um in den Krieg zu ziehen, noch nicht alt genug, um den Betrug an seiner Generation zu empfinden – das kam erst nach dem Krieg, als er erfuhr, was wirklich geschehen war, als die Opfer zu erzählen begannen.

Den berühmtesten Emigranten, Thomas Mann, wollte Leo Domzalski für eine Lesung in der Heimatstadt gewinnen. Aber damals, kurz nach der Niederlage, galt der Nobelpreisträger für den Rat der Stadt noch immer als Vaterlandsverräter.

Als Lehrling in der größten Lübecker Buchhandlung verdiente Leo 40 DM im Monat, das reichte für gelegentliche Buchkäufe im Antiquariat. Ein Buch behalten können, das war ein ganz neues Lebensgefühl! Zunächst die Billigausgaben, mit einem so hohen Holzgehalt, dass man Zahnstocher daraus hätte entnehmen können.

Dann die ersten Taschenbücher, von Rororo, später von Fischer, jenem Verlag, bei dem er bald darauf seine Lebensstelle fand. Aber zuvor kam es zur Vereinigung zweier Bibliotheken durch Heirat, aus zwei Regalen wurden vier, und immer wenn es Streit gab, traten die Eheleute vor die Regale und schüttelten den Kopf ob der Unteilbarkeit des Bestandes. Also blieben sie zusammen, 48 Jahre lang.

Leo Domzalski hatte viel Glück im Leben. Eine energische Frau, drei hellwache Kinder, ein wunderschönes Haus. Aber Glück haben ist das eine, es annehmen zu können, das andere.

Als er sich bei Gottfried Bermann Fischer bewarb, hieß es: „Derzeit leider keine Stelle frei, und nach Berlin werden Sie wohl nicht gehen wollen!“ Wer wollte das schon 1957?

„Aber ja, ist doch spannend!“, entgegnete er. Und auf die in der Folgezeit oft gestellte Frage: „Fühlt ihr euch nicht eingesperrt“, konnte er nur lachen. Im Haus waren immer ein, zwei westdeutsche Rekrutierungspflichtige angemeldet, um ihnen den Wehrdienst zu ersparen, seine Kinder wiederum wurden auch im Westen angemeldet, damit sie Wahlrecht hatten – jede Stimme zählte! In Urlaub fuhr die Familie nach Jugoslawien, da gab es, anders als in Spanien oder Griechenland, keinen Faschismus.

Leben wie man liest, sich von Buch zu Buch verwandeln, dazu hielt er auch seine Kinder an. Die Pflichten im Haus waren klar verteilt. Der Vater fürs Musische, er bat zur Lesung, jeden Sonntag, Telefon und Klingel wurden abgestellt, und er las den „Herrn der Ringe“ mit seiner ruhigen, unprätentiös betonenden Stimme. In Erziehungsfragen hingegen war die Mutter zuständig, was zuweilen sein Harmoniebedürfnis ein wenig störte. Wenn die Kinder bei Tisch von ihr zu besseren Essmanieren ermahnt wurden, dann bat er: „So was doch bitte nicht beim Essen!“

Leo Domzalski schenkte seinen Kindern wie nahezu jedem Gegenüber etwas sehr Seltenes, eine von Herzen kommende Aufmerksamkeit. Das konnte dazu führen, dass sich seine kontrovers äußernden Gesprächspartner verdutzt ansahen, weil er jedem abschließend versicherte: „Das verstehe ich gut, sehr gut!“ Ein ungebrochenes Vertrauen in die Formen eines zivilen Umgangs, ohne förmlich zu sein.

„Kein Unkraut, nur Wildkraut!“ Es durfte nichts geschnitten werden im Garten. „Wenn man will, dass es Bäume gibt, muss man sie auch wachsen lassen.“ Was auch bewies, wie geschickt er darin war, für ungeliebte Nebentätigkeiten, namentlich Gärtnern, die passende Philosophie zu entwickeln, die eben diese Tätigkeit überflüssig machte.

Die Bibliothek im Hause Domzalski wuchs und wuchs. Und während seine Frau darüber nachdachte, Teile zu veräußern, kämpfte er um jedes Buch. Im Keller stand ein Regal, betitelt: Gerettet aus dem Antiquariat. Der Gedanke, das ist alles zu viel, zu viel Ballast des Wissens, kam ihm nie. Gute Ordnung war alles. Das Geburtsjahr war ausschlaggebend. Lebende Autoren hingegen standen alphabetisch, bis sie starben, dann, ein Mal im Jahr, wurde umgeräumt. Die Geisteswissenschaften waren thematisch geordnet, alles Praktische, Ratgeber zum Gärtnern und Radfahren, Reiseführer, Nachschlagewerke der allgemeinen Art standen – jedermann zugänglich – im Treppenhaus.

Besserwisser meinen: „Das können Sie doch gar nicht alles gelesen haben! Und wenn doch: Ausgelesen ist ausgelesen!“ Unsinn. Liebe ist: nach Jahren ein Buch aus dem Regal ziehen, staunen, dass es immer noch da ist, wiewohl man selbst ein anderer wurde, und das Buch wohl auch. „Es könnte nicht so viel sagen, wenn es nicht die ganze Zeit über stumm gewesen wäre“, sagt Elias Canetti, Leo Domzalskis Kronzeuge in Sachen Bibliophilie, „und welcher Idiot würde zu behaupten wagen, dass immer dasselbe drinstand.“ Gregor Eisenhauer

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