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Ein Tritt, ein Knick. Und nun? Die Tür zu Hitlers Fach hat eine Delle und wird in diesen Tagen wohl repariert. Besucher sind irritiert: Muss der überhaupt hier unten „geehrt“ werden?

© Kai-Uwe Heinrich

Leserdebatte: Hitler hat eine Beule

Ein Kunstwerk im Reichstagsgebäude erinnert an ehemalige Abgeordnete. Nun wurde die Gedenkbox des NS-Diktators beschädigt. Muss man die wirklich reparieren? Diskutieren Sie mit, liebe Leserin, lieber Leser!

Adolf Hitler ist im Halbdunkel leicht zu übersehen. Dabei gehen jeden Tag mehrere tausend Menschen an ihm vorbei – Bundestagsabgeordnete, Mitarbeiter des Parlaments und auch Besucher. Nur ein paar Kohlefadenlampen erleuchten den Gang zwischen den insgesamt 4781 angerosteten Metallboxen im Kellergeschoss des Reichstagsgebäudes. Aufgereiht hat sie der französische Künstler Christian Boltanski zu einer raumhohen Installation. Hier unten im Reichstag, an den Gründungsmauern, stehen die Fundamente der parlamentarischen Demokratie, wird an jeden der zwischen 1919 und 1999 gewählten Abgeordneten erinnert.

Im parlamentarischen Alltag findet das Kunstwerk wenig Beachtung; hier hasten die Menschen durch den Tunnel, der die Abgeordnetengebäude mit dem Reichstag verbindet. Nahe Boltanskis Installation stehen mehrere Geldautomaten und eine Schuhputzmaschine. Einer der eher unbekannten historischen Orte. Hier findet sich auch der Rest jenes Heizungstunnels zwischen dem historischen Palais des Reichstagspräsidenten und dem Reichstag, durch den 1933 Gerüchten zufolge der damalige Reichstagspräsident Hermann Göring die NS-Brandstifter unbemerkt in den Reichstag schicken konnte.

Als „Gedächtnis der Demokratie“ möchte der Künstler Boltanski das Kunstwerk verstanden wissen. Jede Box steht für einen frei und demokratisch gewählten Abgeordneten, sagt der weltweit bekannte Erinnerungskünstler. Die Blechkisten verzeichnen auf einem papiernen Etikett neben jedem Namen die Fraktionszugehörigkeit und wie lange der Abgeordnete dem Parlament angehörte. Die Zeit zwischen 1933 und 1949, als es kein demokratisch gewähltes Parlament gab, wird symbolisiert von einer „Blackbox“, einer schwarz lackierten Schatulle. Der erste Abgeordnete, der nach der schwarzen Zeit für die junge Bundesrepublik steht, ist Konrad Adenauer.

Dreißig Reihen hoch stapeln sich die Blechkisten mit der rostroten Patina. Berühmte Parlamentarier und unbekannte Abgeordnete finden sich hier. Franz Stenzer etwa, ziemlich weit unten. Er war Reichstagsabgeordneter der KPD von 1932 bis 1933. „Opfer des Nationalsozialismus 22. August 1933“ steht bei seiner Blechkiste auf einem schwarzen Streifen: Ermordet wenige Montage nach der „Machtergreifung“ durch die Nazis im Konzentrationslager Dachau. An Stenzer erinnert im Berliner Stadtteil Marzahn eine Straße an den Gewerkschafter.

Rechts neben dem ermordeten Kommunisten steht auf dem angeklebten Etikett „Adolf Hitler NSDAP 1933“. Seit einigen Wochen hat der „Führer“ eine Beule. Unbekannte haben die Blechtür eingedrückt; vielleicht durch einen gezielten Fußtritt gegen die in Kniehöhe befindliche Kiste. Auch Rudolf Heß findet sich hier in Hitlers Nähe; wie auch die Namen der anderen 286 NSDAP-Abgeordneten – die Totengräber der Demokratie.

Für viele Besucher ist es eine Überraschung, hier Hitler und seine Mordgesellen anzutreffen. „Krass“, sagt ein 19-Jähriger aus Rosenheim, der auf Einladung eines Bundestagsabgeordneten den Reichstag besucht. Wie er sind auch andere Besucher verwundert über die als „Ehrung“ empfundene Blechkiste für den „Führer“. Erst recht irritiert sind drei Praktikanten aus den USA. Ausgerechnet hier den „Zerstörer der Demokratie“ zu finden, so Jonathan aus Alabama, sei „strange“.

Die Wahrnehmung der Vergangenheit

Der französische Künstler Christian Boltanski schuf 1999 das Kunstwerk, das im Keller des Reichstags steht. Erinnert wird an knapp 4800 Abgeordnete – darunter auch alle NS-Verbrecher.
Der französische Künstler Christian Boltanski schuf 1999 das Kunstwerk, das im Keller des Reichstags steht. Erinnert wird an knapp 4800 Abgeordnete – darunter auch alle NS-Verbrecher.

© Kai-Uwe Heinrich

Das Werk des 67-jährigen Boltanski, dessen Vater die NS-Zeit in einem Versteck überlebte, kreist um die Wahrnehmung von Vergangenheit. Sein Kellerarchiv soll durch den nur wenig erhellten Gang ein Gefühl von stiller Abgeschiedenheit erzeugen, die Rückseiten der angerosteten Kisten zeigen zum öffentlichen Raum. "Der Gedanke der Gleichheit aller angesichts der Endlichkeit der menschlichen Existenz kommt durch die serielle Fügung der Kästen bildkräftig zum Ausdruck", heißt es in einer Beschreibung des Bundestags. Ob Hinterbänkler oder Persönlichkeiten, die "die Geschicke Deutschlands maßgeblich geprägt haben, ihnen allen wird der gleiche Erinnerungsraum zuteil".

Täter neben Opfer, Demokraten neben Massenmördern – eine befremdliche Zusammenstellung. Und wie geht man mit dem eingedellten Hitler um? Für die Bundestagsverwaltung kein Problem: Das Kunstwerk werde repariert, möglicherweise noch vor Jahresende. Ob die Ausbesserung der Künstler selbst besorgt oder die Haushandwerker, da will sich die Parlamentsverwaltung nicht festlegen. Das sei übrigens nicht die erste Beschädigung des Kunstwerks, das seit der Einweihung des sanierten Reichstags 1999 im Keller steht. "Täter" haben Besucher schon mal mit Filzstift aufs Etikett geschrieben, wird von Bundestagsmitarbeitern berichtet, oder auch gleich ganz das Papieretikett abgerissen. Was der Künstler zu der neuerlichen Beschädigung sagt, ist nicht zu erfahren. Aber auch der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), dessen Name sich ebenfalls im „Archiv der deutschen Abgeordneten“ findet, hat keinen Zweifel: "Das Kunstwerk muss repariert werden – egal, ob es absichtlich oder zufällig beschädigt wurde."

Doch seit Kurzem aber hat sich die Situation verändert. Was, wenn eine zentrale Voraussetzung des Künstlers nicht mehr haltbar ist? Schließlich sollen hier alle Parlamentarier aufgeführt werden, die "frei und demokratisch" gewählt wurden. Dies aber kann für die letzte Reichstagswahl am 5. März 1933 bezweifelt werden. Immerhin begann der NS-Terror schon unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Innenminister Hermann Göring setzte die ihm unterstellte Polizei ein, um die politischen Gegner und deren Wähler einzuschüchtern. Kandidaten von SPD und KPD für die Reichstagswahl wurden verhaftet, Versammlungen verboten, Plakate überklebt und Flugblätter beschlagnahmt. Selbst wenn es keine direkten Wahlfälschungen gab, so wenig kann von freien Wahlen unter rechtsstaatlichen Bedingungen gesprochen werden.

Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) ist dieser Ansicht. Bereits im April 2008, bei der Gedenkstunde des Bundestags zur „Zerstörung der Demokratie in Deutschland vor 75 Jahren“ hat Lammert auf die „politischen Behinderungen und den massiven Straßenterror der NSDAP“ bei dieser Wahl verwiesen. Noch deutlicher sprach der Bundestagspräsident am 2. Dezember 2010 beim Gedenken an die ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 davon, „die letzte freie Wahl in ganz Deutschland fand davor 1932 statt“.

Die Frage, ob die Kunstinstallation nun der veränderten Lage angepasst wird, will die Sprecherin des Bundestags nicht beantworten. Sie verweist auf den Künstler. „Dass Norbert Lammert das Thema zweimal angesprochen hat, dürfte Christian Boltanski nicht entgangen sein“, heißt es, „wenn jemand das Kunstwerk überdenken muss, dann Herr Boltanski.“ Weil der Künstler das Urheberschutzrecht besitze, sei der Bundestag „weder befugt, Veränderungen anzuregen, noch berechtigt, solche Veränderungen anzuordnen.“ Im Übrigen, so die Sprecherin, sei das „Archiv der Abgeordneten“ ein Kunstwerk und „keine politische oder wissenschaftliche Stellungnahme“.

Boltanski, der in Malakoff bei Paris lebt, ist für den Tagesspiegel nicht erreichbar. Deswegen wird Adolf Hitler bald wieder ohne Delle sein.

Führungen durch den Bundestag unter www.bundestag.de/besuche und unter der Telefonnummer 227-32152

Sollte die Gedenkbox Hitlers wirklich repariert werden? Oder sollen die Kisten von Hitler und anderen NSDAP-Politikern entfernt werden? Was meinen Sie, liebe Leserin, lieber Leser? Diskutieren Sie mit und nutzen Sie dafür ganz einfach die leicht zu bedienende Kommentarfunktion hier unten!

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