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Berlin: Loch in der Mauer

Vor 40 Jahren handelte Brandt erstmals Passierscheine aus – 700 000 West-Berliner fuhren Weihnachten nach Ost-Berlin

Wer es erlebt hat, vergisst es nie, dieses herzerschütternde Berliner Weihnachten 1963. Der Bau der Mauer hatte die gesamte Stadt in Depression gestürzt. Entsprechend ergreifend sind 28 Monate später die Wiedersehensszenen. Zum Beispiel in der Immanuelkirchstraße 8, Prenzlauer Berg. Die geräumige Wohnung der Tante gleicht einem Heerlager. Keiner aus der großen Verwandtschaft in Berlin und Umgebung fehlt beim fidelen Familientreffen unterm Weihnachtsbaum. Und spätabends zum Abschied spielt die Oma kerzengrade am Klavier: „Freut euch des Lebens, so lang noch das Lämpchen glüht...“

Hoffnungen und Befürchtungen verbinden sich mit dem Passierscheinabkommen. Der Kalte Krieg tobt weiter, das Ulbricht-Regime pocht auf Anerkennung der DDR; der Senat, die Westalliierten und die Bundesregierung denken nicht daran. Die Berliner freuen sich mit gespaltenem Herzen. Sie sind selig über das Wiedersehen mit Eltern, Großeltern, Geschwistern, Cousinen, Cousins, Tanten, Onkel und Freunden. Aber sie misstrauen der Zukunft. Viel später erst wird das Ereignis im Rückblick als Vorbote der Entspannungspolitik wahrgenommen.

Vom 20. Dezember bis zum 5. Januar 1964 dauert die Freudenzeit. 15000 West-Berliner feiern Heiligabend bei ihren Angehörigen in Ost-Berlin, an den beiden Feiertagen sind es 52000, Silvester und Neujahr 170 000, am letzten Tag sogar 280 000. Insgesamt machen an den 17 Tagen der „halboffenen Mauer“ 700000 West-Berliner 1,24 Millionen Besuche in Ost-Berlin; für die DDR gilt das Abkommen nicht. In der Nacht zum 6. Januar senken sich die Schlagbäume unerbittlich, der letzte um 4 . 05 Uhr am Übergang Sonnenallee. Ergreifende Abschiedsszenen spielen sich ab. Keiner weiß, wie lange die Trennung diesmal dauert.

Das Abkommen geht auf ein „Angebot“ der DDR zurück, dem im Westen misstraut wird. Nach enger Abstimmung des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt mit der Adenauer-Regierung in Bonn und den Westalliierten verhandeln Senatsrat Horst Korber (später Senator) und DDR- Staatssekretär Erich Wendt seit dem 12. Dezember in sieben zähen Runden. Alles droht an der Forderung „der anderen Seite“ (Brandt) nach einer Regierungsvereinbarung der DDR mit dem Senat zu scheitern. Am 17. Dezember unterzeichnen die Unterhändler Korber und Wendt schließlich nach einer dramatischen Nacht um 11.45 Uhr ein „Protokoll“ mit der salvatorischen Klausel, „dass eine Einigung über gemeinsame Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnung nicht erzielt werden konnte.“ Es ist ein Abkommen mit einem nicht anerkannten Staat. Seit dem 18. Dezember nehmen Postangestellte der DDR in zwölf Schulen in den zwölf West-Berliner Bezirken Anträge entgegen und geben Passierscheine aus; Bearbeitungsdauer zwei Tage. Das Hausrecht hat die West-Post. Der Andrang ist chaotisch; Tausende warten täglich in Eiseskälte.

Diesem ersten Passierscheinabkommen folgen drei weitere bis Ostern/Pfingsten 1966. Dann ist Schluss, bis das Viermächte-Abkommen 1972 den geregelten Reise- und Besucherverkehr bringt.

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