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Harald Martenstein.

© dpa

Martensteins Kolumne: Berlins Tendenz zum Kongo

Die Stadt zeigt Kennzeichen eines scheiternden Staats. Unser Kolumnist Harald Martenstein über die postkolonialen Probleme Berlins.

"Was ist bloß mit Berlin los“, fragte ich einen Politologen. „S-Bahn kaputt, keine Taxis am Flughafen, überall Dauerbaustellen und Staus, Schulsystem kaputtreformiert, brennende Autos, Gefängnisse, aus denen die Gefangenen einfach rausspazieren, Landowsky-Prozess, Schuldenrekorde, kann man das irgendwie auf einen Nenner bringen?“

Der Wissenschaftler sagte: „Zitieren Sie nicht meinen Namen. Ich habe eine Theorie, aber wenn ich damit herauskomme, werden alle über mich herfallen. Verfallende Infrastruktur, Verfall der öffentlichen Dienstleistungen und Verwaltung, Chaos, kein Gewaltmonopol des Staates mehr, unkontrollierte Überschuldung, dadurch Erpressbarkeit durch Investoren, finanzierbar ist nur noch der laufende Betrieb, überforderte oder korrupte Eliten, an der Spitze des Ganzen eine glamouröse und charismatische, aber auch autoritäre Führungsfigur – für uns Politologen sind das klassische Kennzeichen eines scheiternden Staates. Wie reden hier von Somalia, Haiti oder dem Kongo. Verstehen Sie mich richtig, es ist vorerst nur eine Tendenz, Wowereit ist ja kein Gewaltherrscher, es gibt immer noch Wahlen, es gibt noch eine unabhängige Justiz, in Teilbereichen sogar noch Reste von Infrastruktur und Verwaltung. Aber die Tendenz geht klar in Richtung Staatszerfall.“

„Nicht mal der Zoodirektor hat noch seine Affen im Griff. Wie entsteht das?“

„Der scheiternde Staat ist ein typisches postkoloniales Phänomen. Die Kolonialherren ziehen überstürzt ab, im Fall von Berlin waren das die Westalliierten und die Sowjetunion. Sie hinterlassen Eliten, die bis dahin eine gewissermaßen schmarotzerhafte Existenz geführt haben, es gibt keine Tradition der selbstverantwortlichen Verwaltung, kein selbstbewusstes Bürgertum, keinen Begriff von Gemeinwohl ...“

Ich sagte: „Wissen Sie, seit Jahren schreibe ich, halb satirisch, Artikel, in denen ich fordere, dass die Alliierten Berlin wieder übernehmen. Wenn ich daran denke, wie gut damals die S-Bahn, die Taxis, die Schulen und all das funktioniert haben, werde ich ganz melancholisch.“

„Realistischer“, sagte der Politologe, „wäre es, dass der Bund Berlin übernimmt, ähnlich wie in den USA. Von dem üblichen Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ist in Berlin wenig zu erwarten, auch in Somalia oder Haiti bringen Wahlen erst mal gar nichts, da muss zuerst wieder ein funktionierender Staat her, mit Gewaltmonopol, öffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen, einem Etat und so weiter.“

„Angela Merkel macht das nicht“, sagte ich. „Merkel vermeidet unkalkulierbare Risiken. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass Wowereit 2013 Kanzler wird, und dass der dann Berlin unter Bundeshoheit stellt.“ Der Politologe lachte.

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