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Die Männer suchten sich ihre Opfer oft draußen.

© imago/photothek

Pädophile Netzwerke in Berlin: Missbrauch von Kindern im Namen der sexuellen Freiheit

In Berlin konnten sich Pädosexuelle vor Jahrzehnten ungestört dem Sex mit Kindern und Jugendlichen widmen. Eine Studie untersucht die erschreckende Zeit.

Es begann mit Fotos. Erst durfte Ingo Fock noch eine Badehose tragen, später war er nackt. Der Fotograf war ein Bekannter, der Ingo bei den Hausaufgaben half. Ingo war noch keine zehn Jahre alt, ein Schlüsselkind in Kreuzberg Ende der 1960er Jahre, die Eltern kümmerten sich kaum um ihn.

Nach den Fotos die nächsten Schritte: Erst musste Ingo den Fotografen oral befriedigen, dann führte ihn der Täter in seinen „Freundeskreis“ ein. Drei, vier Männer in einer Wohnung, dazu mehrere Kinder.

Jeder Erwachsene beteiligte sich am Missbrauch. Der Freundeskreis vergrößerte sich, einer der Täter war Zahnarzt, Rollenspiele absolvierte er auf dem Behandlungsstuhl. Ein anderer Täter sagte zu Ingo: „Kannst ja gern zur Polizei gehen. Ich werde verhindern, dass irgendetwas dabei rauskommt.“ Ingo, noch keine 13 Jahre alt, glaubte es sofort. Der Mann war schließlich Richter.

Heute ist Ingo Fock ein älterer Herr mit grauen Haaren. Und er steht als Beispiel für viele Opfer von Kindesmissbrauch in Berlin in der Zeit zwischen 1970 und 2000.

Fock hat der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ seine Geschichte erzählt. Sie ist Teil der Vorstudie „Programmatik und Wirken von pädosexuellen Netzwerken in Berlin“, die am Mittwoch vorgestellt wurde.

Verfasst haben sie die Kunsthistorikerin Iris Hax und der Kulturwissenschaftler Sven Reiss. Es ist eine Vorstudie, weil sie sich auf Berlin konzentriert und Ausgangspunkt für Recherchen zu bundesweiten Netzwerken darstellen soll. Auch Fock war bei der Präsentation, er hat 2003 den Verein „gegen-missbrauch“ gegründet.

Pädosexuelle forderten lautstark Sex mit Kindern

Die Studie ist eine Rückschau in eine Zeit, in der die Strafbarkeit homosexueller Kontakte unter Erwachsenen gerade aufgehoben worden war und die Liberalität der Sexualität ein großes gesellschaftliches Thema darstellte. „Die Befreiung der Sexualität war positiv konnotiert“, sagte Sabine Andresen, die Vorsitzende der Kommission. „Deshalb hatten es die Opfer schwer, wenn es um die Schattenseiten der Entwicklung ging.“

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Die Schattenseiten, das waren Pädosexuelle, die lautstark eine Aufhebung der Altersgrenze für sexuelle Handlungen forderten und Sex mit Kindern als Teil der „sexuellen Befreiung“ betrachteten. Heute gäbe es einen Aufschrei, damals waren diese Gruppen verankert im linksliberalen und linksalternativen Milieu und in der Homosexuellen-Szene. Nach dem Motto: „Solidarität mit einer Minderheit der Minderheit.“

„Voll mit Collagen und Gedichten des Knabenliebhabers“

Erziehungs- und Sexualwissenschaftler, aber auch Soziologen fütterten diese Ansichten mit akademischen Thesen. Das Schwule Museum in Berlin zeigte noch 1991 bei einer Ausstellung den Nachlass eines pädosexuellen Pfarrers, der zehn- und 13-jährige Jungen missbrauchte und auspeitschte.

Das Leid der Kinder war groß - und blieb oft verborgen.
Das Leid der Kinder war groß - und blieb oft verborgen.

© Nicolas Armer/dpa

Im Pressetext zur Ausstellung hieß es: „Aus dem Nachlass eines kürzlich verstorbenen Pfarrers werden fünf von knapp 30 Aktenordnern ausgestellt, voll mit Collagen und Gedichten des Knabenliebhabers, der ob dieser Leidenschaften von seinem Amt suspendiert worden war.“ Vor allem wurde er zu fast drei Jahren Haft verurteilt.

Aber das Schwule Museum, sagte Sabine Andresen auch, „zeigt enorme Verantwortung für die damalige Zeit“. Es hat der Kommission viele Materialien überlassen.

Die Studie untersucht die Zeit zwischen 1970 und 2000

Die Studie untersucht die Zeit zwischen 1970 und 2000. In Berlin, teilt die Kommission mit, habe in dieser Zeit eine Pädagogik geherrscht, „die sich von der Tradition der autoritären und gewalttätigen Erziehung der Nachkriegszeit bewusst absetzen wollte“. Sie habe „ihrerseits Räume geschaffen, in denen Kinder und Jugendliche unbeachtet von Teilen der Öffentlichkeit und staatlichen Stellen Gewalt erfahren haben.“

[Ein Kindesmissbrauch bleibt liegen: Berliner Gerichte brauchen oft lange, um die Taten zu verfolgen. Bei Tagesspiegel Plus analysiert Frank Bachner die Fehler im System.]

Damals sahen das lange Zeit die Wenigsten in der linksliberalen und -autonomen Szene. In schwulen Buchläden wurde pädosexuelle Literatur vertrieben, 1997 hatten die Berliner Schwulenberatung und „kursiv e.V. – Zentrum für Aids und Schwulenberatung“ der AG Pädophilie Räume zur Verfügung gestellt.

Die AG Pädophilie war eine der wichtigsten Gruppen der Szene. Initiator der AG war Fred Karst, der mehrfach wegen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurde und zugab, mehr als 140 Jungen missbraucht zu haben. Karst gehörte bei der damaligen Alternativen Liste (AL) zur Bezirksgruppe Wedding, dem Schwulenbereich und der so genannten Knast-AG. Von Ende der 1980er Jahre bis 1994 war er Mitbegründer der Untergruppe „Jung und Alt“ des Schwulenbereichs.

Die Täter suchten sich oft Kinder, die auf der Straße lebten

Das Beuteschema der Täter war meist identisch: Kinder und Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen, die oft auf der Straße lebten und froh um einen Schlafplatz waren. Die Gegenleistung: erzwungener Sex.

Oft mussten die Täter bloß einen Blick in einen Reiseführer werfen, um ihre Opfer zu finden. Schon die erste Ausgabe des Stadt- und Reiseführers „Berlin von hinten“, 1981 erschienen, hatte eine Rubrik für „Knaben und ihre Liebhaber“. Verzeichnet sind dort Lokale in Schöneberg. Zu einer Adresse heißt es: „Zur Zeit der Geheimtipp für Liebhaber jungen Fleisches, das hier sauber und appetitlich zum Mitnehmen angeboten wird.“

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In einem anderen Text in „Berlin von hinten“ fragt ein Pädosexueller: „In welcher Stadt der BRD findet man Jungen, die nachts um 2 Uhr noch ein Stundenhotel kennen, wo man weder auf das Alter noch auf den Ausweis achtet?“ Er liefert die Antwort gleich mit: „Motzstraße, Eisenacher Straße, Kleiststraße.“

Für Ingo Fock ist die Studie nur „die Spitze eines Eisbergs“, die Aufarbeitung sei noch lange nicht beendet. „Die Schwulenbewegung zum Beispiel muss sich fragen, welche Verantwortung sie für die Vergangenheit hat.“ Fock stand selber am Bahnhof Zoo als Stricher, da war er 13, 14 Jahre alt. Er kiffte, um die Situation zu ertragen. Er kennt die Szenerie rund um die Jebenstraße sehr gut. Deshalb hatte er auch schon nach einer Folge der neuen Amazon-Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ genug gesehen. „Der Film spiegelt nicht wider, was dort in der 1970er, 80er und 90er Jahren war“, sagt er. Die Realität, die er kennt: „Es war ein täglicher Überlebenskampf.“

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