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Berlin: Mitten im Leben

Als alter Mensch im Szeneviertel leben? Aber klar. Altenheim-Bewohner erzählen, warum

Am Eingang zum „Pro Seniore“-Haus sitzt ein Bewohner im Rollstuhl und schaut auf das Leben. Hier pulsiert es besonders heftig. „Vis à vis der Hackeschen Höfe“ nennt sich das Seniorenheim. Und jeder weiß, was das bedeutet. Junge, agile, kulturhungrige Menschen, die sich auf der Rosenthaler Straße bis spät in die Nacht aneinander vorbeischieben. Lautes Rufen, klackernde Absätze, das Bimmeln und Quietschen der Straßenbahn. Bestimmt kein guter Ort für den Ruhestand. Oder doch?

Elfriede Fuchs

„Meine Kaufhalle ist gleich nebenan, meine Apotheke, der Bahnhof, die Theater, das Konzerthaus.“ Fast überallhin kann die 71-Jährige zu Fuß gehen oder mit der Straßenbahn fahren. „Mittendrin im Leben“ – das gefällt ihr. Zumal sie an ihre Jugend anknüpft, als sie an der Humboldt-Universität studierte, um Lehrerin zu werden. Jetzt geht sie wieder hin, zur Uni, in Vorlesungen, die auch für Gasthörer offen sind.

Das „Pro Seniore“-Haus ist gut gebucht, obwohl die Mieten höher sind als in anderen Einrichtungen. „Viele Bewohner sind hierher gezogen, weil ihre Kinder in der Nähe arbeiten“, erzählt Rosemarie Stengel vom Pflegepersonal. Im Haus wird Zimmerservice und medizinische Pflege angeboten. Wer kann und möchte, lebt aber auch völlig selbstständig.

Walter Seifert

Bei dem 79-Jährigen ist die Lage etwas anders. Seine Söhne leben in Westdeutschland. Der Gleisbauingenieur wäre gerne in seine Heimat, ein Dorf bei Halle, zurückgekehrt, aber die schlechte ärztliche Versorgung schreckte ihn ab. „Das Leben auf dem Land ist eine Katastrophe.“ Weil seine Frau früher in der Rosenthaler Straße arbeitete, haben sie sich entschieden, im Viertel zu bleiben. Vom viel gepriesenen „Nachtleben“ rund um den Hackeschen Markt hält Walter Seifert nicht viel. Er bevorzugt Tageslichtausflüge in den Monbijou-Park.

Friedel Riemer

„Sommer vorm Balkon“, „Brokeback Mountain“ – Frau Riemer schwärmt für großes Kino. Oft geht sie schon in die Nachmittagsvorstellungen. Oder sie besucht ihren Nachbarn, den Fernsehturm, auf einen Kaffee. Sie grüßt ihn jedes Mal, wenn sie aus dem Fenster schaut. 86 Lebensjahre sucht man in ihrem braungebrannten Gesicht vergebens. Friedel Riemer liebt Literatur und Musik und ist eine bekennende Großstadtpflanze. Das Autofahren hat sie schon lange aufgegeben. Aufs Land reist sie nur einmal im Jahr, um Urlaub zu machen.

Jürgen Albrecht

Mit seinen 56 Jahren ist er der Jüngste in der Runde, ist auf Empfehlung einer Betreuerin hierhergekommen. Er war schwer alkoholkrank. In Mitte kann er mit seinem Zwergkaninchen Gassi gehen, ohne weiter aufzufallen. Und als Fan von Trödelmärkten läuft er nie Gefahr, immer auf dieselben Trouvaillen zu stoßen. Zudem sei es gar nicht überall laut am Hackeschen Markt, sagt er. Jürgen Albrecht wohnt im sechsten Stock, zum Hof hinaus, und hört dort nur die Vögel.

Frau Fuchs ist eben noch die Geschichte ihrer ehemaligen Nachbarin aus Marzahn eingefallen. Die passt gut zum Thema. Ihre Nachbarin sei nämlich zu ihrer Tochter in ein Dorf bei Fürstenwalde gezogen. „Da ist ja nix, da draußen. Kein Geschäft, zweimal in der Woche kommt der Bäcker vorbei.“ Und natürlich gibt es keinen Arzt. Kranke Menschen ohne Auto sind auf den Bus nach Fürstenwalde angewiesen. Der fährt einmal am Tag.

Inzwischen bedauert ihre Nachbarin, im Alter aufs Land gezogen zu sein.

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