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Berlin: Nach 26 Jahren Pflege vor den Ämtern kapituliert

Tötung des schwerstbehinderten Sohns entfacht Debatte über Pflegemängel Experten kritisieren fehlende Beratung der Angehörigen und karge Pflegesätze

Am Ende blieb nur die Verzweiflung. „Wir waren nur Kostenträger. Ich kam mir vor wie eine Bettlerin“, sagte Eveline G. am Montag vor dem Moabiter Kriminalgericht. Im vergangenen Oktober hatte die 61-jährige Frau ihren 26-jährigen Sohn Marco mit Tabletten getötet. Seit seiner Geburt hatte die Charlottenburgerin ihren schwerstbehinderten Sohn gepflegt. Immer wieder hatte sie Probleme mit den Pflegekassen, musste sie vor dem Sozialgericht klagen, um ein paar Stunden Hilfe pro Woche kämpfen. Deshalb wollte sie ihn, wie sie sagt, erlösen. Totschlag, sagt die Staatsanwaltschaft .

Die Tat hat die Diskussion über die Pflegesituation in Deutschland erneut entfacht. „Wir treffen häufig auf Menschen, die mit der Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen völlig überfordert sind“, sagt Jasenka Villbrandt, sozialpolitische Sprecherin der Grünen. „Da kommt noch eine Lawine auf uns zu.“ Von staatlicher Seite wird erwartet, dass als Erstes Familie oder Partner für die Pflege Verantwortung übernehmen. Momentan fehle jedoch bei den Behörden und Ämtern ein Bewusstsein für deren Probleme. „Die Behörden mischen sich häufig nicht ein“, sagt Villbrandt.Dass die Pflegekassen die gezahlten Leistungen überprüften, wäre nicht das Problem, erklärt Villbrandt. Vielmehr bemängelt sie, wie andere Experten auch, die ungenügende Beratung.

„Wenn jemand zum Pflegefall wird, wird er nach dem Grad seiner Bedürftigkeit eingeschätzt“, erklärt Birgit Stenger von der Arbeitsgemeinschaft für selbstbestimmtes Leben schwerstbehinderter Menschen in Berlin. „Häufig wird dabei aber nur auf die Standardleistungen der Pflegekasse verwiesen, auf weitergehende Angebote von Sozialhilfeträgern, wie beispielsweise einer 24-Stunden-Assistenz, hingegen nur selten. „Und passiert es doch einmal, dann gibt es Probleme mit den Trägern, die die Kosten übernehmen sollen.“

Wird jemand 24 Stunden am Tag durch einen ambulanten Dienst gepflegt, entstehen monatlich Kosten in Höhe von 12 500 Euro, rechnet Birgit Stenger vor. Ein Heimplatz koste im Durchschnitt die Hälfte. Eine Mutter wie Eveline G. hingegen, die ihren Sohn zu Hause pflegt, bekomme lediglich 675 Euro – pro Monat. „Und die Kassen wollen natürlich so wenig wie möglich zahlen.“

„Unser Ziel ist primär gute Versorgung“, versichert Florian Lanz, Sprecher des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen. „Aber natürlich müssen wir auch zusehen, dass die Gelder gut verwaltet werden.“ Die Sätze, die zu zahlen seien, würden jedoch staatlich festgelegt. Einige Behinderteninitiativen fordern deshalb, für die häusliche Pflege den selben Pflegesatz zu zahlen wie für einen Heimplatz.

Dafür, dass Eveline G. ihren Sohn nicht in ein Heim geben wollte, hat Birgit Stenger Verständnis. „Wer stark pflegebedürftig ist, für den gibt es dort oft keine Zeit“, sagt sie. Zu wenig Personal, zu viel Arbeit. Einem Pflegefall wie Marco, der aufwendig gefüttert werden musste, wäre im Heim deshalb wohl schnell eine Magensonde gelegt worden.

Viele Betroffene, die sich von den Behörden allein gelassen fühlen, engagieren auf eigene Faust Helfer. „Das hat deutlich zugenommen“, sagt Birgit Stenger. Diese Kräfte seien jedoch in den seltensten Fällen für ihre Aufgabe ausgebildet und häufig illegal in Deutschland. „Eine gute Lösung ist das nicht.“ Der Prozess gegen Eveline G. wird heute fortgesetzt.

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