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Mit einem Großaufgebot von Beamten ist die Berliner Polizei am Donnerstag gegen organisierten Betrug bei Pflegeabrechnungen vorgegangen.

©  Paul Zinken/dpa

Nach Razzia gegen Pflegedienst in Spandau: Das System hinter dem Betrug

Bei einer Razzia fliegt ein Millionenbetrug durch einen kriminellen Pflegedienst auf - wieder einmal. Der Markt wird lukrativer. In Berlin mischen 600 ambulante Dienste mit.

Eine wachsender Markt, eine fragmentierte Branche und Kontrollinstanzen, die nicht nur mehr Personal bräuchten, sondern auch nicht überall gleichermaßen befugt sind. Das sind Bedingungen, wie sie sich auf Betrug spezialisierte Täter wünschen. Wieder ist am Dienstag ein Pflegedienst durchsucht worden. Wieder geht es um viel Geld– um bis zu einer Million Euro, die Krankenkassen und Sozialämtern fehlt. Wieder gingen die Verdächtigen langfristig vor.

"Mobilitätseingeschränkter" Patient fuhr Fahrrad

Die Razzia in einem Büro in der Seegefelder Straße in Spandau und den Wohnungen von Mitarbeitern und Patienten überrascht in der Branche nur wenige. Die russischsprachige Hauptverdächtige, 41 Jahre alt, leitete den Pflegedienst von Spandau aus und beschäftigte Mitarbeiter, die ebenfalls aus Russland und Kasachstan stammen – immer wieder waren Männer und Frauen aus diesen Ländern mit Betrugstaten aufgefallen. In ähnlichen Fällen waren auch Mediziner und Pharmazeuten involviert. „Unabhängig vom aktuellen Fall: Wer im Gesundheitswesen anfängt, ist meist gebildet, mindestens gewieft“, sagte ein Kenner. „Da sind Rocker und arabische Gangster selten.“

Die Pflegedienstchefin, wohnhaft in Falkensee, und sieben Angestellte, unter anderem aus Dallgow-Döberitz, sollen mit 30 Patienten zusammengearbeitet haben. Gemeinsam haben sie, so der Verdacht, deren Versicherungen und die Ämter getäuscht. Einige der vermeintlich Pflegebedürftigen hätten „ein paar hundert Euro im Monat“ bekommen, sagte ein Polizeisprecher, wenn sie sich bei einer Einstufung durch die Krankenkassen als „stark mobilitätseingeschränkt“ zeigten. Einer dieser Patienten sei aber munter „mit dem Fahrrad unterwegs“ gewesen. Die Firma habe von den Versicherungen bis zu 2000 Euro im Monat für Pflegehilfen kassiert, die nicht erbracht wurden.

Wie läuft das genau?

Das Vorgehen ist bekannt. Als Sozialsenator Mario Czaja (CDU) noch neu im Amt war, schätzte seine Verwaltung, dass jeder dritte Pflegedienst die Kassen und Sozialämter betrüge, also Leistungen abrechne, die nicht erbracht wurden. In der Pflegestufe III beispielsweise zahlen die Kassen rund 1600 Euro im Monat für Hilfe im Bad, Haushalt und beim Essen. Wenn ein Pflegedienst nur die Hälfte dieser Arbeiten ausführt, macht er 800 Euro illegalen Profit pro Fall und Monat. Oft melden Bedürftige dies nicht, sei es, weil sie allein sind und dafür Hilfe bräuchten, sei es, weil sie den Betrug nicht merken.

Mehr Geld erwirtschaften Dienste, die agile Senioren, die dazuverdienen wollen, unmittelbar einspannen. Dann könnte ein befreundeter Arzt beauftragt werden, ihnen die Pflegebedürftigkeit zu bescheinigen. Die Rentner werden instruiert, wie sie sich bei Kontrollen des zuständigen Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) verhalten sollen: zaghaftes Stöhnen, gebeugte Haltung, winzige Schritte – ganz so, als bräuchten sie Hilfe. Der Pflegedienstleiter rechnet dann für 1600 Euro Maßnahmen ab, die nie erbracht wurden und niemand brauchte. Wenn 20 Senioren mitmachen, kann der Pflegedienstchef jedem von ihnen 600 Euro geben, und sich mit seinen Mitarbeitern die übrigen 20 000 Euro pro Monat teilen – zusätzlich zu den legalen Löhnen. Nach drei Jahren betrüge der Schaden 1,2 Millionen Euro.

Die Bevölkerung wird älter, der Markt lukrativer

Weil die Bevölkerung im Schnitt immer älter wird, wächst der Pflegemarkt: In Berlin wird sich die Zahl der Bedürftigen von 110 000 auf 170 000 bis 2030 erhöhen. Hinzu kommt, dass es in Berlin bald 620 ambulante Dienste und fast 400 Heime gibt. Mehr als 10 000 Menschen arbeiten direkt in der Alten- und Behindertenpflege. Der Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) warnte am Donnerstag vor Pauschalisierungen: Gegen „betrügerische Kartelle“ müsse vorgegangen werden. „Seriös arbeitende Pflegeunternehmen und ihre Beschäftigten müssen aber vor dieser Art von Generalverdacht geschützt werden.“ Auch Senator Czaja hatte oft betont, die Branche sei nicht krimineller als andere. Nur lässt sie sich eben schlecht kontrollieren. Für die Heime etwa gibt es eine Landesaufsicht. Für Privatwohnungen, in denen Pflegedienste helfen, fehlen solche Befugnisse. Dort kontrolliert der MDK, wobei auch er nicht immer prüfen kann, ob seine Kontrolleure bei Einstufung der Bedürftigkeit reingelegt wurden.

AOK: manipulierte Rechnungen, fingierte Rezepte und Bestechungsfälle

In anderen Fällen zahlen zudem die Sozialämter die Pflege nicht ausreichend Versicherter, der MDK ist also nicht vor Ort. Czaja hatte 2013 durchgesetzt, dass Sozialhilfeträger und Pflegeversicherungen immerhin Daten austauschen, um Betrüger aufzuspüren. Bei der Razzia am Donnerstag waren Mitarbeiter des Spandauer Sozialamtes und der Senatsverwaltung dabei.

Auch die Kassen arbeiten besser zusammen. Drei Millionen Euro forderten etwa die Ermittler der AOK Nordost 2014 und 2015 insgesamt zurück. Dafür sind sie der AOK zufolge fast 1000 Hinweisen nachgegangen, davon allein in Berlin 460. Es fanden sich manipulierte Rechnungen, fingierte Rezepte und Bestechungsfälle.

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