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Hildegard Irmisch

© privat

Nachruf auf Hildegard Irmisch: Aber es gibt noch etwas mehr zu sagen

Ein großartige Ärztin war sie, unermüdlich. So viele, denen sie geholfen hat. Außerdem hatte sie drei Töchter, allein. Was erzählen sie von ihrer Mutter?

Von David Ensikat

In den Nachrufen auf den Vater ihrer drei Töchter ist keine Rede von seinen Vaterqualitäten. Wäre es da nicht fair, in ihrem Nachruf die Mutterrolle auszuklammern? Aber wer sagt denn, dass es im Nachrufwesen fairer zuzugehen hat, als im Leben, das den Nachrufen voranzugehen pflegt? Außerdem sind es die Töchter, die über ihre Mutter berichten. Selbstverständlich berichten sie von ihrer Arbeit als Ärztin. Da muss sie großartig gewesen sein. Aber es gibt noch etwas mehr zu sagen.

Die Älteste erzählt von der Situation in dem Pflegeheim, in das sie ihre Mutter schließlich brachten. Dort erinnerten sie sich an Hildegard Irmisch: Das war doch diese Ärztin, die sich so aufopfernd um ihre Patienten gekümmert hatte, und die immer schon früh um sechs unterwegs gewesen war! Da dachte die Tochter: Stimmt, das war so; und wer hat sich um uns Kinder früh um sechs gekümmert?

Wie das alles kam, ist schwer zu ergründen. Über sich selbst berichtete Hildegard Irmisch kaum etwas, die Vergangenheit spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Zukunft. „Es ist, wie es ist“ war ein Satz, der häufig fiel. Dass sie aus wohlhabenden Verhältnissen stammte, christlich, CDU, der Vater stets auf Arbeit, die Mutter Hausfrau, streng, zwei Geschwister, das war immerhin bekannt. Auch dass es sich von selbst verstand, dass sie studieren würde, Jura, Medizin, irgendetwas Ordentliches, und dass sie eine Familie gründen würde mit Ehemann und Kindern. Das mit den Kindern hat geklappt, das mit dem Ehemann nicht.

Was werden würde, bekümmerte sie so wenig wie das, was war

Nach dem Studium ging sie nach Berlin, weit weg vom Elternhaus, und sie wollte noch viel weiter weg, nach Amerika. Darum lernte sie neben der Arztausbildung Englisch, bei einem Briten. Der war so charmant und weltgewandt, dass sämtliche Frauen im Kurs ihn anhimmelten. Doch er bot nur ihr, der schönen jungen Ärztin, an, sie nach Hause zu chauffieren.

Er war 20 Jahre älter, hatte Familie, und dass Hildegard seine einzige Affäre war in jenen Jahren, ist unwahrscheinlich. Es waren ja auch viele Jahre. Hildegard liebte ihn, sie blieb in Berlin, und sie wollte ein Kind von ihm, ach was, viele Kinder! Wie gesagt, was werden würde, bekümmerte sie so wenig wie das, was war. Kinder hatte er bereits, sechs an der Zahl. Warum noch mehr? Weil Hildegard es wollte!

Nun, wenn er jenseits der Zeugung nichts weiter damit zu tun haben würde, warum denn nicht?

Drei Töchter gebar sie (sich, nicht ihm!). Nun war sie aber Ärztin, und von der Berufung brachten sie ihre Kinder ebenso wenig ab wie die Affärennatur ihrer Beziehung vom Kinderkriegen. Pünktlich zur Geburt der ersten Tochter eröffnete sie ihre Praxis am Südstern, Kreuzberg. Da es sich herumsprach, dass es dort eine besonders gute Ärztin gab, wuchs die Praxis schnell. Die Belange ihrer Patienten waren ihre Belange. Sollte keine ohne die gebührende Behandlung bleiben, sollten keinem die Medikamente verwehrt bleiben, die ihm halfen, so teuer sie auch waren.

Je schwerer der Fall, desto aufopfernder die Hilfe – also landeten immer mehr schwere Fälle bei ihr, also auch die Junkies vom Kottbusser Tor. Die Ärztin urteilte nicht, sie half. Und wenn nichts besser half als eine saubere Ersatzdroge, dann sollte es die sein. Hildegard Irmisch war eine der Ersten, die Methadon verabreichte. Das war ein langer Kampf.

Zuweilen hätte sie etwas vorsichtiger sein dürfen

Und ihre Töchter? Hatten Kindermädchen, lernten viele Patienten ihrer Mutter kennen. Und nahmen, wenn es sein musste, ihre Belange selbst in die Hand. Wiederum die Älteste erinnert sich an eine Krise, als sie 14 war. Sie wollte die Schule wechseln und kam gar nicht auf den Gedanken, die Mutter danach zu fragen. Sie sprach beim Direktor einer anderen Schule vor, der rief die Mutter an, und die war selbstverständlich einverstanden: Die Tochter wird schon wissen, was sie tut.

Das war es vielleicht, was diese Frau zu einer guten Mutter machte: Sie vertraute ihren Töchtern. Sie gab ihnen zu verstehen, dass sie die Dinge, wie sie sie taten, gut taten. Und die Töchter wussten immer, wo sie war, in ihrer Praxis, und dort konnten sie nicht nur anrufen, jederzeit, sie konnten dort auch hin. Wenn die Mutter hin und wieder dort schlief, dann durften sie das auch. In den Urlaub ging es stets gemeinsam, und oft auch in die Philharmonie, wo die Mutter zwar oft einschlief, aber sie waren gemeinsam da.

Beruflich lag die Sache mit dem Vertrauen etwas anders. Da hätte sie zuweilen etwas vorsichtiger sein dürfen. Die Junkies waren doch Erwachsene! Musste man sie denn beaufsichtigen, wenn sie das Methadon bei ihr bekamen? Ihr erschien das würdelos. Man hätte es gemusst. Die Ärztin verlor ihre Zulassung für diese Art der Zuteilung.

Das war nicht das einzige Mal, dass sie in Konflikt mit übergeordneten Stellen geriet. Für die Kassenärztliche Vereinigung, die für die Geldverteilung zuständig ist, war Dr. Irmisch ein schwieriger, ein teurer Fall. Denn sie ließ sich nicht von den Kalkulationen der Sparkommissare leiten, sondern vom Bedarf ihrer Patienten. Fassungslos war sie, als sie auf Regress verklagt wurde.

Sie konnte es auch nicht fassen, als der Mann, den sie liebte, die Affäre nach 17 Jahren für beendet erklärte. Sie war Mitte 40, es gab ein Agreement, wie sie ohne einander miteinander lebten, für die Töchter war er der ferne Vater, der stets auf Arbeit, und manchmal, wenn es nach Zigarette und Whiskey roch, auf Besuch war. Und das sollte nun vorbei sein?

Die Töchter spürten, dass es der Mutter schlecht ging. Darüber gesprochen wurde wenig. Und als sie schließlich einen anderen Mann gefunden hatte, ein Patient, der sie, so erzählen es die Töchter, mehr ausnutzte als liebte, und der sich den Töchtern gegenüber eher kaltherzig verhielt, war auch das kein Thema fruchtbarer Erörterungen. Man muss die Dinge nehmen, wie sie sie sind!

Ein anderes Leben als ein arbeitendes konnte Hildegard Irmisch sich gar nicht vorstellen. Als die Demenz einsetzte, sie war Anfang 70, verbrachte sie ihre Tage selbstverständlich noch in der Praxis. Die Sprechstundenhilfe konnte sich noch immer an die wesentlichen Dinge erinnern. Als die Ärztin sich schließlich überreden ließ, einen Arzt aufzusuchen, und als der die Diagnose stellte, war klar, dass es so nicht weiterging. Die Töchter kümmerten sich um die Auflösung der Praxis, beglichen die verbliebenen Regressforderungen und erhielten immer wieder Dankesbotschaften ehemaliger Patienten ihrer Mutter.

Sie sagen, die Demenz, das große Vergessen, war schlimm, doch irgendwie schien es zu passen zu dieser Frau, für die das Vergangene schon immer von minderem Interesse gewesen war. Besonders schnell verschwanden die beiden Männer aus ihrem Gedächtnis, die jeweils 17 Jahre ihren Lebensweg begleitet hatten.

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