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Wilfried Heinz Löde

© privat

Nachruf auf Wilfried Heinz Löde: Immer gut drauf. Und jetzt ist Ruhe

Ein Strahlemann, stets wie aus dem Ei gepellt, immer einen Spruch auf den Lippen. Und er hat viel Mist gebaut.

Janine war 15, als sie sich auf die Suche nach ihrem Papa machte. Wo wohnte er? Würde er sie überhaupt wiedersehen wollen? Wilfried hieß ihr Papa. „Ich heiß’ zwar Löde, aber ich bin noch lange nicht blöde“ war sein Spruch. Ihre Mutter wollte nicht über ihn sprechen, wollte auch nicht, dass Janine nach ihm suchte. Sollte erstmal seinen Unterhalt zahlen, bevor er seine Tochter zu sehen bekam.

Er war ein Strahlemann, früher, immer gut drauf, immer wie aus dem Ei gepellt, immer einen Spruch auf den Lippen. Einer, den die Leute erstmal mochten. Geld brachte er auch nach Hause. Einmal waren sie sogar nach Bulgarien geflogen. Mama, Papa und Janine. Das musste man sich erst einmal leisten können.

Wilfried arbeitete in einem Gemüseladen in Prenzlauer Berg und hatte die Begabung, den Leuten noch die traurigsten Äpfel an die Backe quatschen zu können. Er kannte Hinz und Kunz und genau die richtigen Leute an den richtigen Stellen. Sein Chef und er bestachen den LKW-Fahrer, damit dieser bei der Auslieferung erst zu ihnen kam und sie sich die beste Ware raussuchen konnten. Einmal deichselten sie es, dass Pfirsiche von einem LKW fielen, der auf den Weg nach West-Berlin war. Die verkauften sie dann auf der Friedrichstraße. Die Leute sind fast verrückt geworden. Dann zahlte eine Oma im Laden ausversehen mit 100 Westmark. Der Schein war ja ähnlich blau wie der Ost-Hunderter. Willfried gab ihr in Ostmark raus und fuhr mit dem Schein zum Intershop. Dann wieder gaben sie kostenlose Gemüsesuppe aus, damit die Leute in den Laden kamen. Wilfried kippte eine Flasche Rizinus-Öl in die Suppe: „Das macht Durchfall!“

Es war, als ob Wilfried verpasst hatte, erwachsen zu werden. Wenn seine Nachbarn, seine Mutter und er hackedicht waren, was öfter vorkam, lud er seine Mutter in die Schubkarre, fuhr sie in der Gartensiedlung drei Straßen weiter, kippte sie vor einer Gartenpforte aus und ließ sie dort liegen.

Von jetzt auf gleich konnte die Stimmung kippen

Janine wusste von ihrer Mutter, dass die sich in den Strahlemann und Quatschkopf verliebt hatte, der so gerne tanzte und feierte, und dass sie, Janine, sein Wunschkind war. Vom Rest wusste sie kaum etwas. Etwa, dass der Strahlemann so viel trank, dass er mitunter auf der Straße umfiel. Dass seine Stimmung von jetzt auf gleich kippen konnte und er plötzlich die Mutter anraunzte, warum der Wäscheständer rumstand. Er wollte natürlich, dass es der Familie gut ging: Er bezahlte der Mutter den Führerschein, bestach den Fahrlehrer, damit er sie in einem guten Lada unterrichtete. Bestach den Prüfer, dass sie auch gleich beim ersten Mal durchkam. Andererseits nutzte er ihre Fahrstunden, um sich mit anderen Damen zu treffen. Als sie sich trennen wollte, trat er Türen ein und schlug zu. Als sie sich trennte, weinte er wie ein Schlosshund, sie war doch seine große Liebe. Auch sie weinte, auch er war ihre große Liebe. Doch es ging nicht mehr. All das wusste Janine nicht. Sie wollte ihren Vater kennen lernen.

Heimlich durchsuchte sie die Unterlagen ihrer Mutter. Jeden Tag einen anderen Ordner, bis sie den ersten Hinweis in einem Anwaltsschreiben fand. Wilfried wohnte in Hellersdorf mit einer anderen Frau, mit einer zweiten Tochter. Eine genaue Adresse stand da aber nicht. Janine ging zur Post, notierte alle Telefonnummern unter diesem Namen und legte los. Ein Anruf, fünf Anrufe, zehn Anrufe. „Nein, kein Wilfried hier.“ Bis eine Stimme zurückfragte: „Wer ist denn da?“ Sie legte schnell auf. Und rief dann wieder an: „Ich bin es, deine Tochter …“

Erst schrieben sie Briefe, dann trafen sie sich. Da war er wieder der lustige Strahlemann, gutaussehend, mit Hemd und Jackett, er wollte einen guten Eindruck machen. Kurz nach der Wende war das, der Gemüseladen hatte geschlossen, Wilfried hangelte sich von Umschulung zu Umschulung. Wirklich Fuß fasste er nicht mehr. Und wieder war da dieses Einerseits-Andererseits, von dem Janine erst später erfuhr. Weil die zweite Tochter Leukämie hatte, rauften Wilfried und seine zweite Frau sich noch einmal zusammen. Wilfried kümmerte sich, Hauptsache das Kind kam durch. Doch wenn seine Laune kippte, verletzte er beide mit Worten und mit Händen.

Zwei Jahre war Wilfried der Strahlepapa für Janine. Dann war er weg, meldete sich nicht. Um irgendwann aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Später verstand Janine, dass das nichts mit ihr zu tun hatte. Trennung, Entzug, Arbeitslosigkeit, wieder Alkohol, Ein-Euro-Jobs, Hartz 4. Wenn er die Kraft hatte, nahm er Kontakt auf. Und noch etwas lernte sie: Ändern würde sie ihn nicht. Ihren Frieden konnte sie nur machen, wenn sie ihn nahm, wie er war.

Wilfried zog zurück nach Französisch Buchholz, ins Gartenhaus seiner Eltern. Donnerte einem Nachbar bei einem Trinkgelage eine Holzlatte über den Schädel, ging dafür ein paar Wochen ins Gefängnis. Vielleicht hatte all das, diese Wut, diese Heftigkeit, damit zu tun, dass Wilfried sich als Jugendlicher die halbe linke Hand weggesprengt hatte, so vermutet es Janine. Eine selbstgebastelte Bombe.

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Wenn Janine ihn besuchte, freute er sich riesig. Die Stimmungskanone in ihm wurde wach, dann berlinerten die beide, was das Zeug hielt. Als Janine heiratete, sagte er zu ihrem Mann: „Das ist gut, jetzt passt du auf meine Tochter auf.“

Sie wiederum war beeindruckt, wie ordentlich es bei ihm war. Nichts lag herum, alle Unterlagen sauber wegsortiert, alles glänzte, und selbst das Waschbecken in der Küche war poliert. Die Weinbrandflasche für 4,99 stand nicht in der Stube, sondern in der Küche, damit er sich aus seiner tiefen Sofakuhle erheben musste. Da ihm das Zeug eigentlich nicht schmeckte, trank er danach immer eine Tasse Pfefferminz- mit Früchtetee.

Einmal besuchte er Janine in Westdeutschland. Drei Tage riss er sich zusammen. Drei Tage zeigte sie ihm ihr Leben. Gute drei Tage. Irgendwie kamen sie auf Gott zu sprechen. Er bete jeden Tag, sagte er. „Was betest du denn?“, fragte sie. „Ich bete für dich und meine andere Tochter.“

Zu seiner Beerdigung kamen vier Menschen. Sie standen an seinem Grab, die Urne war schon in der Erde, als einer seiner letzten Freunde sagte: „Er hat immer so viel geredet. War immer unter Strom. Jetzt ist Ruhe.“

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