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Berlin: Hans-Jürgen Ranke (Geb. 1929)

Die Damen sollen sich im Treppenhaus begegnet sein.

Der schlimmste Tag war der, an dem das Klavier verstummte. Keine Etüden, Sonaten, Suiten und Fantasien mehr. Die Pianistin stand auf dem Balkon, als sie der Granatsplitter ins Bein traf. Hans Jürgen war zwölf, als seine Mutter verblutete. Wie sie, wollte er auf dem Leipziger Südfriedhof beerdigt werden. Aber es kam anders.

Sein Vater arbeitete als Zahnarzt und lebte über seine Verhältnisse. Der Gerichtsvollzieher wurde ein Freund des Hauses, der gern zum Mittagessen blieb. Der Sohn erhielt dennoch eine standesgemäße Ausbildung, Medizin in Leipzig. Während des Studiums verliebte er sich in eine Schriftstellerin, doppelt so alt wie er. Sie heirateten, aber eines Nachts packte Hans-Jürgen seine Sachen und kehrte der Stadt den Rücken. Warum er seine Frau verließ und nach Freiburg zog, ist ungeklärt, wie so vieles, was Hans-Jürgens Liebesleben angeht. Er hatte Affären. Manchmal mehrere gleichzeitig. Die Damen sollen sich im Treppenhaus begegnet sein. Zum Lebensstil gehörte die Verschwiegenheit, hin und wieder auch die Lüge. Vermutlich blickte Hans-Jürgen manchmal selbst nicht mehr durch. Gesichert ist, dass er der sitzen gelassenen Schriftstellerin monatlich Pakete und Geld nach Leipzig schickte, dass er in Freiburg eine internistische Praxis leitete, und dass er schließlich nach Berlin zog, wo er erst im Johannesstift und dann in einer Gemeinschaftspraxis in Siemensstadt arbeitete. Vielen Patienten ist er als ausgesprochen zugewandt und hilfsbereit in Erinnerung.

Mit einer Malerin lernte Hans-Jürgen seine größte Liebe kennen. Bei der ersten Begegnung war seine „kleine Pucky“ Anfang 40, wie seine Ehefrau aus Studienzeiten, nur dass er selbst jetzt nicht mehr Anfang 20, sondern 65 war. Er schmiedete Heiratspläne, wohnte aber gleichzeitig mit einer anderen Frau zusammen, die ihn heiraten wollte und von der Affäre nichts wusste. Hans-Jürgen sah auch noch im rentenfähigen Alter gut aus: blond mit blauen Augen, einem feinen, lieben Gesicht und gepflegter Kleidung.

Als ihm wegen seines Alters die Kassenzulassung entzogen wurde, setzte er sich nicht zur Ruhe, sondern behandelte Privatpatienten. Noch immer setzte er sich übermäßig ein, noch immer ließ er sich in der Nacht aus dem Bett klingeln und machte Hausbesuche. Er wollte nicht einsehen, dass er älter wurde. Hin und wieder lebte er nach der Devise: Was keiner bemerkt, existiert auch nicht. So vertuschte er gegenüber einer guten Freundin jahrelang, dass sich seine Geliebte von ihm getrennt hatte und ausgezogen war, weil er sie nicht heiraten wollte. Mit den Krankheiten hielt es Hans-Jürgen ähnlich: So tun, als ob alles in Ordnung sei. Dabei war er schon seit Jahren nicht richtig auf dem Posten: Bluthochdruck, Herzprobleme und der ein oder andere nonchalante Griff in die pharmazeutische Produktpalette zeichneten ihn auf der einen Seite. Eine Hüftoperation verursachte sein anderes Problem. Ein Nagel war durch den Knochen getrieben worden, der nach zwei Jahren heraus gemusst hätte – aber Hans-Jürgen ging so ungern zum Arzt. Er schob die Operation auf und litt schließlich furchtbare Schmerzen.

Im letzten Dezember erleidet er den ersten Schlaganfall. Der zweite folgt im Mai. Danach fällt ihm das Sprechen schwer und er kommt in eine Reha-Klinik in der Reinickendorfer Straße. Dort feiert er seinen 79. Geburtstag. Er wird in die „Stroke Unit“ der Charité eingeliefert, der Station für Schlaganfälle. Zusammengesunken und auf einen Stuhl geschnallt, sehen ihn ein paar enge Freunde das letzte Mal. In seinen Augen steht Verzweiflung. Er will sterben, weiß aber nicht wie. Künstlich ernährt, versucht er, sich die Schläuche herauszureißen, wird aber fixiert und muss den Gang der Dinge mitverfolgen.

Wie um seine Frauengeschichten, ranken sich auch um sein Begräbnis Gerüchte. Wieso denn anonym, wo er doch in seinem Leben nicht ohne Eitelkeit war? Und warum auf dem Waldfriedhof an der Heerstraße und nicht neben seiner Mutter auf dem Südfriedhof in Leipzig? Ein weiteres Geheimnis, das seine Freunde und Geliebten ihm lassen müssen. Anselm Neft

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