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Gerlind Crusius

© privat

Nachruf auf Gerlind Crusius: Unterricht ist Anschauungssache

Eine Schule für alle: für die Kinder war es selbstverständlich, Für die Erwachsenen, Lehrer wie Eltern, bedeutete es Umdenken

Wo andere Probleme sahen, sah sie Lösungen. Auch in der Liebe. Was wird bei der Partnerwahl nicht geseufzt und geschmachtet, gezaudert und gekniffen. Sie wusste, sie wollte Stefan. Die Gründe lagen auf der Hand: er war ein Jahr älter, hatte gerade den Führerschein gemacht und durfte das Auto seiner Mutter fahren. Zudem hatte er Humor und war handzahm. Folglich ließ er sich auch ohne weitere Widerstände von der Zweisamkeit überzeugen, was ein Glück für beide war. Zum Dank hielt sie nach einigen Jahren auch standesamtlich um seine Hand an, die er ihr bis zum Ende nicht mehr entziehen konnte und wollte.

Einvernehmlichkeit war ihr wichtig, und Mobilität, das hatten ihr schon die Eltern vorgelebt. In den Ferien ging es immer auf Reisen. Sie und ihre ältere Schwester zog es ans Meer, die Eltern in die Berge. Dementsprechend wechselten regelmäßig die Urlaubsziele, dem familiären Frieden zuliebe. Daheim in Tempelhof lebte es sich beschaulich und gut, wenn auch etwas eng. Die Oma war noch mit in der Wohnung, also ging Gerlind gern raus zum Sport. Sie war eine gute Turnerin, eine gute Läuferin, und sie liebte es zu malen, woraus sie aber keinen Beruf machen wollte. Sie wusste, ihre Talente früh vernünftig einzuschätzen.

Der Vater hätte sie gern zu sich ins Finanzamt geholt, aber eine Freundin rettete sie vor dem Martyrium der Zahlen und wies den Weg zum gemeinsamen Studium an der Pädagogischen Hochschule. Es ist einfacher, mit Kindern gut umzugehen, wenn man selbst welche hat. Gerlind entschied sich für zwei Kinder, womit auch Stefan einverstanden war. Es zeigte sich schnell, dass sie eine gute Mutter war und eine gute Lehrerin, und so bat sie der Rektor der Fläming-Schule, zu ihnen zu kommen. Die Fläming-Schule war eine besondere Schule, weil dort schon in den 70er Jahren körperlich und geistig behinderte Kinder in die Klassen aufgenommen wurden. Der Leitsatz: „Wir wollen die Schule für die Kinder passend machen, nicht umgekehrt.“

Wenn der Kaffee alle war, war eine Lösung gefunden

Inklusion. In der Praxis heißt das: Es sollte einen Aufzug in der Schule geben. Es sollte Pädagogen und Psychologen geben, vor allem aber Lehrer, die Unterricht mit Kindern und nicht vor Kindern machen. Gerlind hatte Glück. Vier Kolleginnen fanden sich zusammen, privat wie in der Schule, die über alles reden konnten. Unterrichtsplanung, Klassenfahrten, Probleme mit Schülern, mit Eltern - wenn der Kaffee alle war, war meist auch eine Lösung gefunden.

Was das für Kinder mit und ohne Beeinträchtigung bedeutet, ist in zwei Filmen zu sehen: „Klassenleben“ von 2005 und „Die Kinder der Utopie“, 2019. Nicht viele Kinder in Berlin werden sich so gern an ihre Schulzeit erinnern, wie die Kinder der Fläming-Schule, die dank Gerlind eine Menge Spaß hatten. Unterricht ist Anschauungssache. Wenn in Geschichte Rom Thema wurde, erschien sie in einer Toga. Die Schüler wollten mit auf Zeitreise, also musste sich jeder einzelne etwas einfallen lassen: römisches Essen, antike Musik und Tänze, Spiele und Kämpfe, Frisuren und Kostüme. Alle waren bei der Sache. Das ist Inklusion.

Für die Kinder war es selbstverständlich. Für die Erwachsenen, Lehrer wie Eltern, bedeutete es Umdenken. Eine Schule für alle, das sagt sich leicht, ist aber viel Arbeit, die nur dann leichtfällt, wenn Geld da ist, und Personal, und vor allem Enthusiasmus. Anfangs war da eine große Sogwirkung auf junge Lehrerinnen und Lehrer, die unbedingt am Fläming-Projekt mitwirken wollten.

Schulen weltweit zeigten Interesse an dem Konzept. So ging Gerlind auf Reisen. Selbst der Berliner Senat konnte sich im Lauf der Jahre dafür begeistern. Auch wenn er sich zuweilen zögerlich zeigte, die erforderlichen Mittel bereitzustellen.

Gerlind wurde dennoch nicht dienstmüde. Ihr Arbeitsplatz war ihr lieb bis zur Pensionierung. Weil die Kinder ihr lieb waren und die Eltern, und weil das Frauen-Quartett sie trug. Sie hielt gern ihr hohes Tempo, auf der regelmäßigen Spazierrunde um den Schlachtensee und auch auf Reisen. Mit Ausnahme der Antarktis hat sie gefühlt alle Länder der Welt gesehen. Nicht sparen, verreisen!, so ihre Richtlinie für die Haushaltskasse.

Sie wurde noch begeisterter Oma als Mutter. Vier Enkel, die sie allesamt ins Herz schloss, ohne sich aufzudrängen. Wobei sie wie ihre Eltern dafür sorgte, dass ihr Naschdepot immer gut gefüllt war, was die Enkel noch ein wenig lieber zur Oma kommen ließ. Sie wiederum scheute sich nicht, Ratschläge, selbst modischer Art, von den Kleinen anzunehmen. Wenn ihre Enkelin vorschrieb, welche Ohrringe Oma zu tragen hatte, dann wurden sie auch angesteckt. Da war sie folgsamer als Opa, der sich seinen Bart nur widerstrebend stutzen lassen wollte. Streit gab es deswegen nicht, nur Gelächter. Nach wie vor gab es niemand, mit dem sie lieber aufs Wasser blickte als mit Stefan, ob jetzt in der Bretagne, wo das Essen so gut war, oder auf Usedom, wo Hering immer nach Hering schmeckt.

Vor Jahren war schwarzer Hautkrebs auf ihrem Rücken entdeckt und operiert worden. Aber es gab Metastasen. Ihr Wesen änderte sich. Sie kam plötzlich zu spät. Oder fuhr am Treffpunkt vorbei. Saß vor dem Handy, die ganze Nacht hindurch, blicklos. Nach der Hirnoperation ging es besser, aber der Krebs hatte bereits im ganzen Körper gestreut. Ein Vierteljahr blieb ihr. In der Wohnung mit dem Rollator. Sie ging nicht mehr gern aus dem Haus.

Im Juli letzten Jahres hat sie noch ihren Geburtstag gefeiert. Ihre Bitte wie immer: Keine Geschenke und Blumen, sondern für das Kindertages- und Nachthospiz „Berliner Herz“ spenden. Traurig war sie, denn sie wollte ihr altes Leben zurück, aber niedergeschlagen war sie nicht. „Es ist schade“, tröstete sie ihre Tochter und ihren Sohn, „und vielleicht etwas früher als gedacht, aber ich hatte an sich ja alles, und so ist es halt.“ Der Tod ist ein Problem, das sich nicht kleinreden lässt. Wollte sie auch gar nicht. Ihre Bilanz war nüchtern und klar: Was hätte sie sich für ein schöneres Leben wünschen sollen?

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