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Irma Wolf

© privat

Nachruf auf Irma Wolf: Was sollte man groß über Gefühle reden?

Olympia 1936, Bomben auf Berlin, der Verlobte und der Vater in Gefangenschaft. Über all das berichtete sie sachlich, ruhig

Irma stand mit ihrem Vater im Klostersee von Lehnin. Erst machte er die Armbewegungen vor, dann zeigte er ihr wie man die Beine anzog und wieder streckte. Jetzt war Irma dran. Für ein paar Momente hielt er sie, dann ließ er sie los. Und sie schwamm ihre ersten Züge. Der Vater arbeitete bei der Kleinbahn, die zwischen Lehnin und Groß Kreutz fuhr. Streng war er, sein Wort Gesetz. „Ich bin zum Dienen erzogen worden“, sagte Irma viele Jahrzehnte später. Sie sagte aber auch, dass sie sich nach seiner Liebe sehnte.

Der Vater wurde arbeitslos und fand eine Stelle bei der BVG, erst als Straßenbahnfahrer, dann als Schaffner. 1926 war das. Die Familie zog nach Friedrichshain, da hatte die Oma eine Kutscherkneipe. Irma half beim Tischewischen. Ein Foto zeigt sie mit Handtasche, Kleidchen und adretter Bob-Frisur, in ihren Armen eine Schultüte. „Mein erster Schultag“, steht auf einer kleinen Tafel Kreide geschrieben. Sie lächelt. Sie ist gespannt auf das, was kommt.

Sie schrieb ihre Einsen und Zweien, doch im Unterricht bekam sie keinen Ton heraus. Mündliche Prüfungen waren ihr ein Graus, da fiel sie immer durch. Gerne hätte sie noch weiter gelernt. Tänzerin wäre sie gerne geworden. Doch mit 13 begann sie eine Lehre als Kontoristin in einer Krawattenfabrik. Sie sollte Geld nach Hause bringen, keine Hupfdohle werden. Auch wenn es der Vater war, der ihr das Tanzen beigebracht hatte: Mit Schallplatte und Grammofon im Wohnzimmer. In der Fabrik rannten die Mäuse überall umher, es war ein Graus. Irma aber erledigte so fleißig ihre Arbeit, dass die Kolleginnen ganz neidisch auf sie waren.

Was ahnte sie von Propaganda-Inszenierungen?

Irma turnte in einem der vielen Turnvereine, Boden, Barren und Reck. Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 war sie dabei, zusammen mit tausend anderen Jugendlichen stand sie in weißem Hemd und dunkler Hose vor den jubelnden Zuschauern. Was ahnte die 14-Jährige schon von Propaganda-Inszenierungen? Sie war stolz. 1938, als am 9. November die Synagogen und die Geschäfte jüdischer Inhaber angegriffen wurden, traf es auch ihre Krawattenfabrik. Kurz darauf wurde die Firma „arisiert“, die Besitzer mussten sie verkaufen. Irma blieb.

Wer tanzen geht, lernt Männer kennen. Der Willi hatte es ihr besonders angetan. Ein Schlossergeselle, der lieber Gärtner geworden wäre. Doch die Firma, bei der er seine Gärtnerlehre begonnen hatte, war pleitegegangen. Es war keine Hals-über-Kopf-Liebe, mehr ein vorsichtiges Kennenlernen, eine langsame Zuneigung, bis der Krieg alles beschleunigte. Willi meldete sich freiwillig. Irma und Willi verlobten sich, bevor er an die Front musste.

In Berlin fielen die Bomben. Nacht für Nacht rannten die Familie in den Kellerbunker, Irmas Vater war der zuständige Blockwart. Einmal hatte Irma etwas auf dem Dachboden vergessen. So wichtig, dass sie aus dem Keller wieder nach oben rannte. Das Haus wackelte, die Stadt brannte, der Vater verpasste ihr eine Ohrfeige, als sie wieder im Keller war. Als der Angriff vorbei war, sie an die Oberfläche kamen, war das Haus ausgebrannt, die Kopfsteinpflaster waren vom Feuer noch warm.

Die Rote Armee stand in Berlin. Soldaten zogen durch die Straßen. Irma versteckte sich in der Küchenbank, ihre Mutter und die beiden Tanten setzten sich einfach drauf. Die Soldaten stießen den Vater die Treppe hinunter. Später verschwand er in Sachsenhausen. Willi war in Kriegsgefangenschaft, Mutter und Tochter hielten zusammen, schleppten Steine der zerstörten Häuser. Über all das berichtete Irma später sachlich und ruhig. Was sollte man da groß über die Gefühle reden?

1948 war Willi wieder da. Sie heiratete, ein Sohn wurde geboren, dann eine Tochter. Die Familie zog zu Willis Eltern nach Kaulsdorf, unterm Dach war noch ein Zimmer für sie frei, der Rest des Hauses war mit Flüchtlingen belegt. Die Kinder mussten versorgt werden, die Tochter hatte eine leichte geistige Behinderung. Nebenbei ging Irma arbeiten, erst bei der Post, dann bei der Produktionsgenossenschaft des Handwerkes. Am Wochenende fuhren sie in die Datsche, Gemüse anbauen, im Wald spazieren, im See baden. Ein kleines Glück.

Und das Dienen, so wie es der Vater ihr anerzogen hatte, zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Erst kümmerte sie sich um die Eltern von Willi. Dann zog ihre eigene Mutter ein, die nach und nach erblindete und dement wurde, und natürlich kümmerte Irma sich um sie. Schließlich wurde auch Willi krank, Staublunge. In der Gefangenschaft hatte er im Kohlebergwerk geschuftet, dann, als Schlosser, bediente er Sandstrahlgeräte ohne Arbeitsschutz. Mit den Enkeln besuchte Irma das Naturkundemuseum, den Plänterwald, den Fernsehturm. Später zog einer der Enkel mit seiner Familie zu ihr ins Haus.

Was sie für sich tat? Bücher, Kreuzworträtsel, Patiencen, Canasta mit Freundinnen. Eine Kreuzfahrt mit einer Freundin, die krank wurde. Und wer kümmerte sich? Und dann war da die Tochter, die immer noch bei ihr wohnte. Irma umsorgte und pflegte sie, bis sie es nicht mehr schaffte. Da war sie 84.

Im Pflegeheim kam sie zur Ruhe. Keine Verantwortung mehr, kein Dienen, nur noch sie, die Rätsel, die Seniorengruppe der Kirche, die schöne Aussicht auf Berlin von ihrem Zimmer im achten Stock. Die Enkel besuchten sie, die Urenkel kamen. Und immer, wenn einem der anderen Alten etwas runterfiel, bückte sie sich. Da konnten die Pfleger sie ermahnen, wie sie wollten. Karl Grünberg

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