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Nachruf auf Maria Richter: Feste Regeln, viel Vertrauen

Ein Abenteuerspielplatz mitten im Wedding: Die Mitarbeiter kamen und gingen, sie blieb

Wenigstens einmal im Jahr sollten die Kinder aus Wedding in die weite Welt. USA, Indien, Afrika, wohin es ging, entschieden sie selbst. Am Tag der großen Reise mussten sie ihre Flugtickets bei Maria vorzeigen, dann durften sie mit der Leiter auf einen der Container vom Abenteuerspielplatz klettern.

Oben standen schon Stühle, wartete der Pilot mit einer echten Uniform, eine Stewardess erklärte die Flugregeln. Dann hoben sie ab und flogen der Sonne entgegen.

Die Reisen waren Marias Idee. Welche Sprache wird gesprochen, mit welchem Geld bezahlt, was wird dort gegessen? Wochenlang ging es nur darum. Maria telefonierte Restaurants ab, ob sie ihnen traditionelle Gerichte spenden könnten. Wenn sie dann zwischen den Kindern stand und mit ihrer tiefen Stimme von den Wundern der Welt sprach, fühlten sie sich tatsächlich wie auf Reisen. Und für Maria war es das Glück auf Erden.

Telux heißt der Abenteuerspielplatz gleich in der Nähe vom Leopoldplatz, einer der Gegenden von Berlin, in denen die Kinder arm und ärmer sind. Hier bauen sie Bretterbuden, laufen auf Stelzen, zünden Lagerfeuer an, spielen Fußball. Diesen Ort der Freiheit, im Winter matschig, im Sommer grün, gibt es seit 50 Jahren, gleich nebenan ein Kinderbauernhof. Mitarbeiter kamen und gingen. Maria blieb. Mehr als 30 Jahre war sie die Leiterin.

„Hier wird keinem Kind Gewalt angetan!“

Der Anfang war hart. Eine Gruppe Jugendlicher hatte den Platz zu ihrem Gebiet erklärt, vertrieb die Kinder, griff die Sozialarbeiter an. Beharrlich konfrontierte Maria die Jugendlichen, machte ihnen klar, dass das so nicht geht. Sie fragte sie aber auch, was bei ihnen zuhause los war, und suchte nach Angeboten für sie. Bis endlich Frieden auf dem Platz einzog.

Ein Frieden, den Maria verteidigte. „Hier wird keinem Kind Gewalt angetan“, sagte sie immer wieder. Kinder werden nicht geschlagen, nicht angeschrien, nicht unter Druck gesetzt.

In den Gesprächen mit Marias Partner, ihrer Schwester, mit Freundinnen und Kollegen, wird deutlich, dass der Platz und die Kinder in ihrem Leben an erster Stelle kamen. Dabei war sie nie verbissen, sie hatte auch andere Interessen. Für sie war es einfach eine Frage der Gerechtigkeit. Ihre Kinder sollten die gleichen Chancen haben wie die Kinder aus Charlottenburg und Wilmersdorf.

Am schönsten war es für Maria, wenn aus den Kindern Erwachsene wurden und diese noch einmal die Pforte zum Telux öffneten, Maria im Garten oder in der Töpferwerkstatt fanden und ihr berichteten, dass aus ihnen, den Troublemakern und Unruhestiftern, Schreiner, Lageristen, Gerüstbauer geworden waren, die ihr Leben im Griff hatten, gerade weil Maria ihnen von Anfang zugetraut hatte, die Säge zu bedienen und den Hammer zu schwingen. Es gab feste Regeln, aber auch Raum sich auszuprobieren und viel Vertrauen.

Aufgewachsen ist Maria in Lippstadt, Nordrhein-Westfalen, in einem großen Haus für die Familie. Hier lebte sie mit ihren Eltern und Geschwistern, dann waren da noch Onkeln und Tanten und viele Cousins und Cousinen und auch die Großeltern.

Zog die zehnköpfige Kinderbande los, lief Maria vorneweg. Sie bestimmte, was als nächstes gemacht wird. Ihre Eltern waren Katholiken, gehörten der CDU an, die Mutter war Vorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft.

was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet. Da flogen die Fetzen, verletzend wurde es aber nur selten. Maria wurde Schulsprecherin, trat den Jusos bei, unterstütze streikende Arbeiter, bis es sie über Umwege für ein Studium der Sozialpädagogik nach Berlin verschlug und schließlich auf den Telux. 

Hier lernte sie Siggi lieben, den Leiter des benachbarten Kinderbauernhofs. „Wir ergänzten uns hervorragend“, sagt er. Beide arbeiteten 80 Stunden die Woche, beide gaben alles für ihre Einrichtungen. Siggi konnte sich gegenüber der Presse äußern, was Maria als Angestellte des Öffentlichen Dienstes nicht ohne Weiteres durfte.

Öffentlichkeitsarbeit war sehr wichtig, denn die beiden Grundstücke, fast 5000 Quadratmeter Land, bebaut mit nichts als ein paar Holzhütten und Containern, weckte Begehrlichkeiten. Ein Kaufhaus, Parkplätze, Tennisplätze, eine Schule, ein ums andere Mal versuchte das Bezirksamt Abenteuerspielplatz und Kinderbauernhof zu schließen.

Maria setzte sich zur Wehr. Sie erklärte den Kindern und Jugendlichen, um was es ging, dann malten sie Transparente und zogen vors Bezirksamt, vors Rote Rathaus. Sie setzte sich in Gremien und Ausschüsse, sie knüpfte ihre Netzwerke, sammelte Verbündete. Siggi war stets dabei, auch ganz privat. Nur geheiratet haben die beiden nie. „Dazu war sie viel zu emanzipiert“, sagt er.

War dann doch endlich Feierabend setzte sich Maria in ihr Auto und fuhr nach Brandenburg, hier lebte sie mit Siggi in einem Haus mit einem wunderschönen wilden Garten.

Um den kümmerte sich Maria, zog die Tomaten, kochte Obst ein, machte Blattläusen und Nacktschnecken das Leben schwer, ließ die Hecke wachsen und wachsen, egal was die Nachbarn sagten, Hauptsache die Vögel hatten Schutz. Dann und wann setzte sie sich auf ihr Motorrad, eine alte Yamaha SR 500, düste die Landstraße entlang, zusammen mit ihrer Freundin Silvia und dem Frauen-Motorrad-Club. Fuhr sie mit Silvia in den Urlaub, lagen sie am Strand, lasen und redeten über die Bücher. Als Silvia an Krebs erkrankte, half Maria ihr durch die Behandlung.

Im Herbst 2021 begann Maria sich unwohl zu fühlen, aber keiner wusste woran es lag. Siggi fuhr sie von einem Arzt zum nächsten. Bis der Schatten auf ihrer Lunge entdeckt wurde. „Alles ging so schnell“, sagt er. Vier Wochen später standen sie an ihrer Seite, Silvia, Siggi, Cousin Heribert, zwei weitere Freundinnen. Sie hielten ihre Hand und mussten sich verabschieden.

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