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Michael Fritzen

© privat

Nachruf auf Michael Fritzen: Ein Sünder für die gute Laune

Jahrzehntelang versorgte er die Werktätigen mit Tanzmusik. Dann wollte er dorthin, wo ihn niemand erwartete

Von David Ensikat

Am 17. Dezember 1985 um zehn Uhr morgens stand der ehemals prominente und wohlhabende Musiker Michael Fritzen nebst Frau, zwei Kindern und zehn schweren Koffern vor dem Bahnhof Friedrichstraße und nahm an, dass er hier scheitern würde. Nicht nur galt es, das Riesengepäck zum Bahnsteig hochzuschaffen, jenen Teil seines Hausstandes, für welchen ihm die Erlaubnis erteilt worden war, ihn in sein neues Leben mitzunehmen. Er musste zuvor auch noch mit alledem und Frau und Kindern durch das Labyrinth der DDR-Passabfertigung, den „Tränenpalast“, gelangen. Der Bahnhof Friedrichstraße war ein Grenzübergang zwischen Ost und West.

20 Monate waren vergangen, seit Michael Fritzen den Antrag auf Ausreise gestellt hatte, die untertänige Bitte, aus der Obhut des sozialistischen Staates entlassen zu werden. Er hatte Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden und an das Komitee für Unterhaltungskunst gestellt, er war jede Woche bei der Meldestelle der Volkspolizei des Bezirks Köpenick vorstellig geworden, um zu erfragen, ob in seiner Angelegenheit Bescheid erteilt worden sei. Er war Schwarztaxi gefahren, da er nicht mehr auftreten durfte, er hatte verkauft, was er verkaufen konnte, seine Konten leergeräumt und alles Geld in den Westen schmuggeln lassen – er kannte zwei Angehörige der US-Streitkräfte, Alliierte, die an der Grenze nicht kontrolliert werden durften; diese übergaben das Geld an seinen West-Bruder, der es in Westgeld umtauschte, vier DDR-Mark für eine Deutsche Mark, und dieses auf ein Konto einzahlte, dass ihm, Michael Fritzen, sollte er dereinst im Westen eintreffen, seine ersten Schritte in der freien Welt erlauben würde, in der die Musik, der er in der DDR Wohlstand und Prominenz verdankte, niemanden interessierte.

Nicht selten widersprach sein Lebenswandel den Geboten

In Rötha bei Leipzig ist er zur Welt gekommen. Der Vater, Kapellmeister, und die Mutter, Sängerin, überließen die erste Musikausbildung ihres Sohnes dem Pfarrer, der immerhin über eine Silbermannorgel verfügte. Auf die Art der Musik, die Michael Fritzen später spielen sollte, hatte das keinen großen Einfluss. Sie war ausgesprochen weltlicher Natur. Dafür empfand er sich bis zum Ende seines Lebens als gottgläubiger Christ. Welcher reumütig eingestand, dass sein Lebenswandel nicht selten den Geboten widersprochen hatte. Im Alter von 73 Jahren fertigte er eine Liste von Attributen an, welche gegen ihn sprachen, darunter „tumbe Geilheit, Geldgier, Alkohol“. Es fielen ihm aber auch diverse Positiva ein, die das Saldo ausgleichen würden, etwa: „Fleiß, Vorsicht, Originalität“.

Weiter aber im frühen Leben unseres Sünders. Ohne seinen Vater ist er aufgewachsen, da dieser in den Krieg musste und danach im Westen blieb. Die Mutter ernährte sich und die zwei Söhne als Musiklehrerin an verschiedenen Internaten. So blieben sie nie lange an einem Ort, Michael blieb nirgends genug Zeit, um einen Freundeskreis zu gründen, aber viel Zeit für seine Instrumente, Klarinette, Saxofon.

Das Abitur durfte er machen, für ein Ingenieurstudium erhielt er aber keine Zulassung. Er schuftete als Hilfsarbeiter irgendwo in Leipzig und spielte nach Feierabend Tanzmusik in einer ersten Band. Das gab 45 Mark pro Abend, so viel, dass er sich sein erstes gebrauchtes Auto leisten konnte. Was lag da näher als aus der Musik einen Beruf zu machen?

Die Aufmerksamkeit der Frauen

Seine Mutter lebte inzwischen in Berlin und bildete an der Humboldt-Universität Musiklehrer aus. Sie half dem Sohn bei der Bewerbung, er zog noch einmal zu ihr, an den Senefelder Platz, begann sein Studium, heuerte bei der Jürgen-Fromm-Combo an und verdiente mit zehn Auftritten im Monat schon mehr als seine Mutter.

Und erlebte eine noch viel größere Sensation: Einem Mann, der auf der Bühne stand, galt die Aufmerksamkeit von Frauen, deren Gunst er sich bislang kaum erträumt hätte. Zu klein fühlte er sich und hässlich und seine Mundart viel zu sächsisch. Warum sollte ihn ein so himmlisches Wesen je erhören? Ganz einfach, so erfuhr er nun, weil er sich mit der Musik Gehör verschaffte. Wenn der Swing verklang, stand nicht selten eine Schöne neben der Bühne und lächelte ihn an.

Brigitte hieß jene, die schwanger von ihm wurde und die er, wie sich das gehörte, prompt heiratete. Nur deshalb musste er ja nicht enthaltsam sein, wenn sie mal nicht zugegen war.

Ein weiteres Glück widerfuhr dem Musikanten, als die Nationale Volksarmee sich an ihn wandte. In der Soldaten-Big-Band sollte er mitspielen, was ihn nicht nur um den Wehrdienst brachte, sondern auch um die Delegierung nach dem Studium. Er wäre verpflichtet gewesen, für drei Jahre als Lehrer dorthin zu gehen, wo der Staat gerade Lehrer brauchte. So blieb er in der Hauptstadt, blies tagsüber das Saxofon in Uniform für ein Oberfeldwebelgehalt und abends in zivil für noch viel mehr Geld.

Mit seinem knapp bestandenen Musiklehrer-Abschluss durfte Michael Fritzen nun ganz offiziell als Profimusikant arbeiten. Die DDR regelte selbstverständlich auch das Beschallungswesen planwirtschaftlich; ihre Werktätigen sollten nicht von Ungelernten unterhalten werden.

Es war das Jahr 1965, die Beatles wurden von der Queen zu Rittern geschlagen, die Rolling Stones beklagten sich über zu wenig Satisfaction, da fragten die „Sputniks“ Michael Fritzen, ob er bei ihnen mitmachen würde. Mit ihren zwei E-Gitarren und dem Echo-Hall-Effekt auf der Sängerstimme waren sie die heißeste Beatband im Sozialistenstaat.

Fans zertrampelten junge Bäume, ein Gitarrist fiel in die Saale

Michael Fritzen staunte, was für ekstatische Momente die Beat-Musik im Publikum erzeugen konnte und wurde von Jazz-Kollegen „Verräter“ genannt. Die FDJ organisierte und bezahlte die Konzerte, Fans zertrampelten in Zeitz 26 junge Bäume, ein Gitarrist fiel in die Saale, als sie fürs Fernsehen bei einer Hochwassersendung auftraten.

Und dann zerstörten im unendlich fernen West-Berlin die Fans der Rolling Stones die Waldbühne, erschreckten damit auch die Hüter der Moral in Ost-Berlin, und der Oberhüter verkündete, dass man nicht mehr gewillt sei, „jedes Ye ye ye“ mitzumachen. Ein paar Monate darauf gab es die „Sputniks“ nicht mehr. Allein Michael Fritzen, der einzige von ihnen, der Noten lesen konnte, durfte den Musikerberuf fortsetzen, wenn auch in gesittetem Rahmen.

Was er zunächst bei den Puhdys tat, da deren Saxofonist zum Dienst in einem Armee-Orchester eingezogen worden war. Am Bühnenrand saß immer eine 19-Jährige, Sybille, und zeigte sehr viel Bein. Sie war die Geliebte des verheirateten Gitarristen, welcher, so das Gerücht, sie vom Saxofonisten übernommen hatte. Der neue Saxofonist, Michael Fritzen, fragte nun höflich beim Gitarristen an, ob er, der Saxofonist, sich um die junge Frau würde kümmern dürfen, für den Fall, dass die Ehefrau des Gitarristen dessen Sybille-Abenteuer ein Ende setzen würde. Er durfte und setzte wenig später Sybilles wegen seiner Ehe mit Brigitte ein Ende, aus welcher inzwischen zwei Söhne hervorgekommen waren.

Es folgte die wohl anspruchsvollste musikalische Episode im Fritzschen Schaffen. Er spielte bei den „Jazz Optimisten“ mit. Es entstanden Schallplatten und die legendären „Jazz Lyrik Prosa“-Programme mit Manfred Krug und Eva Maria Hagen. Die Andersartigkeit dieser künstlerischen Unternehmung gegenüber seinen sonstigen wird nicht dadurch zuletzt deutlich, dass es in dieser kurzen Episode seines Erinnerungsbuchs namens „Geschmacklos, aber geil“ weder um Geld noch um Frauenabenteuer geht.

Mit Sibylle war er, wie zuvor mit Brigitte, sieben Jahre zusammen, Kinder gab es nicht, dafür viel Suff und Sex und Eifersucht. Und natürlich auch Musik: „Ihre unglaubliche Orgasmusfähigkeit beflügelte mich, sie zur Sängerin meiner Tanzkapelle zu machen, obwohl sie eigentlich die Töne nicht richtig traf. Ich blies ihren Vocalpart einfach mit meinem Saxofon mit, so dass das Publikum ihre sängerischen Mängel kaum empfand.“

Autogrammkarte von Fritzens Dampferband. Michael Fritzen ganz links mit gelbem T-Shirt
Autogrammkarte von Fritzens Dampferband. Michael Fritzen ganz links mit gelbem T-Shirt

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Ein paar Jahre später, 1975, war das ganz anders. Inzwischen gab es „Fritzens Dampferband“, und die neue Sängerin traf nicht nur alle Töne, sondern brachte Originalität und Witz auf die Bühne, die vor und nach ihr unerreicht blieben. Sie war 19, ihr Name: Nina Hagen. „Du hast den Farbfilm vergessen“, den bekanntesten Schlager der DDR, brachte sie von ihrer alten Band mit, die Dampferband spielte ihn hoch und runter, und er ist, das darf man sagen, mit ebenso großer Berechtigung in allgemeiner Erinnerung geblieben, wie die eigenen Lieder der Dampferband aus der Erinnerung verschwunden sind.

Sie hießen „Das ist ein Tango“, „Hatschi Waldera“, „Plim, plim“, ihre Schunkel- und Mitklatschqualitäten waren beträchtlich, und sie machten die Mitglieder der Dampferband zu wohlhabenden Leuten. Nina Hagen sang nur ein halbes Jahr für sie, es fanden sich andere, die das Liedgut vortrugen. Und für Michael Fritzen fand sich nach dem Ende mit Sibylle Ute, die nicht sang, sich aber um Organisation und die Finanzen kümmerte. Sie gebar zwei Kinder und blieb 14 Jahre an seiner Seite.

„Fritzens Dampferband“ gab es zehn Jahre, sie brachte gute Laune ins DDR-Fernsehen und an die Druschba-Trasse in der fernen Sowjetunion – eine prägende Erfahrung, denn dort verhielt sich das Publikum, schwer trinkende Trassenarbeiter, bei jedem Auftritt ähnlich destruktiv wie die West-Berliner Stones-Fans damals in der Waldbühne. Die Gagen waren staatlich festgelegt, zusätzlich verlangten die Musiker einen Aufschlag in Westmark. Das konnten sich die Kreiskulturhäuser bald nicht mehr leisten, weshalb Mitte der 80er die meisten Auftritte vor Soldaten stattfanden. Für die Stimmung in der Truppe war jedes Mittel recht.

Dass Michael Fritzen schließlich in den Westen wollte, ist nicht so leicht zu verstehen. Das Amiga-Label weigerte sich standhaft, eine LP mit seiner Musik zu produzieren. Dass er jedoch im Westen bessere Chancen haben würde, konnte er nicht ernsthaft glauben. Es war wohl der allgemeine DDR-Frust, das Wissen, dass im Osten nichts mehr besser würde, und zudem die wiederholte Ablehnung seiner Anträge auf Reisen zu Geburtsfeiern seines Vaters. Andere durften rüberreisen, er nicht. Also ganz raus aus dem Laden.

Die Kofferfrage am Bahnhof Friedrichstraße, am 17. Dezember 1985, ließ sich, untypisch für die DDR, erstaunlich einfach lösen. Es gab tatsächlich einen Kofferträger, der sich mit 50 Mark überreden ließ, den Hausstand durch die Pass-Schleusen auf den Bahnsteig zu hieven.

So viele D-Mark, dass ihm die Tausenden von Ostmark läppisch erschienen

In den ersten Wochen kamen die Fritzens bei Michaels Vater unter. Keine leichte Zeit, denn dieser hatte schon immer Zweifel an der Tüchtigkeit seines Sohns gehegt. Jetzt war der Sohn 47 Jahre alt, und es spielte keine Rolle, dass er in den vergangenen 30 Jahren ausgesprochen tüchtig die Werktätigen der DDR mit Tanzmusik versorgt hatte. Er schrieb Rundbriefe an die Familie und bat um Hilfe, er fragte bei Kollegen an, die vor ihm in den Westen gegangen waren. Außer einem Kompositionsauftrag für ein Theater sprang nichts dabei heraus. All der Wohlstand um ihn herum, überall Westgeld. Und er?

Er wurde Lehrer. Sein Staatsexamen legte er innerhalb eines Jahres ab, während dessen arbeitete er bereits an einer Grundschule. Musik, Sport und Werken gab er, und als die Prüfung bestanden war, verdiente er damit so viele D-Mark, dass ihm die Tausenden von Ostmark, die er früher in der DDR erwirtschaftet hatte, läppisch erschienen.

Michael Fritzen war seit jeher von pragmatischer Natur. Die Musik war ein Beruf, das Lehramt ebenso. Er erlernte den Umgang mit den neuen Keyboards, die auch den Rhythmus schlagen, und verdiente hin und wieder etwas Geld als Alleinunterhalter dazu. Zwar musste er, anders als die meisten seiner Kollegen, durcharbeiten, bis er 65 war, doch das tat er gern. Und erwarb den Anspruch auf eine Rente, die es ihm sogar ermöglichte, noch einmal zu heiraten, eine sehr viel Jüngere noch dazu.

Ein alter Musikkollege hatte ihn gefragt, ob er für ein paar Wochen mit nach Pattaya, Thailand kommen würde. Für ein paar Gigs in einem Hotel würden sie umsonst dort unterkommen. Thailand gefiel ihm, die warme Luft, die günstigen Preise und all die Frauen, die so freundlich waren. Die Kommunikation war nicht ganz einfach, aber über die entscheidenden Dinge kam man schon überein. Die erste, in die er sich verliebte, hatte zwar einen anderen, als er zum zweiten Mal das Land besuchte, doch schließlich fand er Tuk.

Die einzige Tochter einer armen Bauernfamilie aus dem Norden, die lesen und schreiben konnte, hatte bislang Geld als Fliesenlegerin verdient und trug nun durch die Heirat mit dem 31 Jahre älteren Mann aus Deutschland zum Überleben bei. Außerdem fuhr sie noch ein wenig Taxi. Er war ihr dankbar, dass sie sich um ihn kümmerte, als es mit seiner Gesundheit bergab ging.

Operationen und Behandlungen standen an, die er sich in Thailand gar nicht hätte leisten können. In Deutschland zahlte die Krankenversicherung. Also kehrte er nach Berlin zurück, wieder nach Rahnsdorf, wo er früher sein Haus gehabt hatte und jetzt eine kleine Wohnung.

Tuk blieb in Thailand, aber sie blieben ein Paar. Zu seiner Beerdigung erklang die Aufnahme von einer CD, die Michael Fritzen vor ein paar Jahren noch mit Freunden eingespielt hatte, „What a wonderful world“.

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