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Wilfried Böhm

© privat

Nachruf auf Wilfried Böhm: „So hat es Jean Cocteau bei mir gemacht“

Er war Schauspieler und ließ sich adoptieren. Als sein Adoptivvater starb, geriet er in eine tiefe Krise. Und adoptierte einen jungen Mann

Von David Ensikat

Ganz oben hat er gewohnt, im vierten Stock, was ungünstig ist, wenn man auf die 90 zugeht und das Laufen schwerfällt. Gut aber ist es, wenn die Nachbarn freundlich sind. Dann macht man Pausen auf den Treppenabsätzen, und immer kommt einer vorbei. Alle Freunde lange tot, die Familie weit entfernt, da spielen die Nachbarn eine große Rolle.

Gegenüber von Herrn Böhm wohnte Ludger, lange schon. Sie trafen einander auf den Treppenabsätzen, sie unterhielten sich, manchmal stundenlang, über den Flur, von Tür zu Tür. Herr Böhm war ein Mann, der etwas auf sich hielt, Tücher um den Hals, gebildet und humorbegabt, und immer die Distanz wahrend. Sie blieben beim Sie, bis Ludger eines Tages, zwei Jahre mag das her sein, doch einmal in der Küche von Herrn Böhm saß. Dem ging es schlecht, so schlecht, dass ihm die Tränen kamen, und er fasste Ludger bei der Hand. „Ich bin Wilfried“, sagte er.

Und da sie nun schon beim Du waren, erzählte Wilfried Ludger etwas mehr aus seinem Leben. Er zeigte ihm auch eine Zeichnung, die gegenüber seinem Bett hing, darauf er selbst als junger Mann. Beinahe so verblichen wie die jugendliche Schönheit im Gesicht des alten Mannes waren die wenigen, gekonnt gesetzten Bleistiftstriche. Wilfried fuhr mit seiner Hand über Ludgers Rücken: „So hat es damals Jean Cocteau bei mir gemacht“. Jean Cocteau, der Schriftsteller, Regisseur und Maler, dessen Name unter der Zeichnung stand.

Die Dinge lagen etwas anders als damals

Wilfrieds Vater war Schauspieler, und obgleich das Verhältnis kein gutes war, wollte auch der Sohn Schauspieler werden. Es war nicht lange nach dem Krieg, Wilfried noch keine 20, da lernte er Rochus Gliese kennen, einen erfolgreichen Bühnenbildner und Filmregisseur, 30 Jahre älter. Wie genau die beiden zueinander fanden, weiß niemand mehr, wie lange sie ein richtiges Paar waren, auch nicht. Wilfried erzählte vor allem von Rochus Gliese als dem besseren Vater. Er ließ sich adoptieren, die beiden lebten zusammen, zunächst in Zehlendorf in der der Nachbarschaft der Weizsäckers, dann in der Wilmersdorfer Zweizimmerwohnung, in der der Wilfried nun gestorben ist.

Rochus Gliese führte Wilfried in die große Welt ein, Cocteau lernte er kennen, Jean Marais, Gustav Gründgens. Und er arbeitete selbst als Schauspieler. Als Gliese starb, war Wilfried 56. Die große Welt war wieder klein, er war einsam, er verfiel dem Alkohol.

Bis Mahem in sein Leben kam, ein Tamile, der aus Sri Lanka geflohen war. Jetzt war Wilfried der 30 Jahre ältere. Doch die Dinge lagen etwas anders als damals. Mahem liebte Frauen, einen Ersatzvater suchte er nicht. Dennoch nahm Wilfried ihn in seiner Wohnung auf und adoptierte ihn. Die Hoffnung, damit Mahems Aufenthaltsstatus zu verstetigen, trog allerdings; das gelang erst durch eine Scheinehe. Sowohl die damalige Ehefrau als auch die damalige Geliebte von Mahem (mit der er die Hochzeitsnacht verbrachte) erinnern sich an das Vater-Sohn-Paar mit großer Sympathie. Wilfried gab Mahem ein Zuhause, Mahem gab Wilfried ein Miteinander. Die Frauen erzählen von erstaunlich offensivem Streit, den die beiden immer wieder miteinander austrugen. Allein das deutet auf eine gewisse Ausgewogenheit. Unmöglich fand es Wilfried etwa, wenn eine Frau, die Mahem mochte, üppigere Formen hatte. Aus der Form zu geraten, das gehöre sich einfach nicht. Mahem wiederum las Wilfried die Leviten, wenn der ein Glas zu viel trank. Was immer seltener geschah.

Erfahrung mit der Männerliebe

Ein Anruf in China bei Mahem. Er ist inzwischen etwa so alt wie Wilfried war, als Mahem bei ihm einzog. Er lebt mit Frau und Söhnen eigentlich in England, hat aber gerade eine Professur in China. Über viele Dinge, die weder Ludger, dem Nachbarn, noch den beiden Frauen geläufig sind, weiß er Bescheid. Etwa, wovon Wilfried überhaupt gelebt hat. War es das Erbe seines Adoptivvaters? Sozialhilfe? Bis Anfang der 80er war Wilfried als Schauspieler unterwegs; dann ging das nicht mehr, weil er es mit dem Rücken hatte. Es folgte ein recht angenehmer, zudem lukrativer Job, den er allerdings nach nur einem Jahr aufgab. Wilfried war „Gesellschafter“ bei einer älteren Dame in Steglitz, einer Frau von Ribbentrop. Für ein üppiges Gehalt leistete er ihr zweimal in der Woche Gesellschaft. Er war belesen, rezitierte klassische Texte, kleidete sich anständig, war humorvoll und beredt.

Als er der Dame allerdings erzählte, dass er einen Tamilen aufgenommen habe, einen dunkelhäutigen, beschimpfte sie ihn heftig. Er kündigte prompt, und Mahem hatte ein schlechtes Gewissen. Weder Arbeitslosengeld noch Sozialhilfe bekam Wilfried, denn es gab ja nun den jungen Mitbewohner, der als Dolmetscher Geld verdiente (als Adoptivsohn hatte er zwar kein Anrecht auf einen gesicherten Aufenthalt, die Pflicht, für den Adoptivvater einzustehen, bestand aber sehr wohl, ebenso wie die Möglichkeit, den Staatsorganen als Übersetzer in Asylangelegenheiten zu dienen).

Als Mahem dann eine Kochlehre machte und anschließend Chemie studierte, nahm Wilfried regen Anteil daran, war stolz auf seinen Schützling – und beantragte Sozialhilfe. Er lebte bescheiden, wenn Mahem oder irgendjemand anderes ihm Hilfe anbot, lehnte er ab. Nur keine Abhängigkeit!

Mahem zog nach England, heiratete, bekam Kinder – und das war nun auch Wilfrieds Familie. Er besuchte sie oft, zu Weihnachten sowieso; Mahems Söhne waren seine Enkel. Die Verständigung war nicht ganz einfach, Wilfried sprach kein Englisch. Weshalb der jüngere der beiden, Raveen, Deutsch lernte. Es stellte sich heraus, dass Raveen Frauen wie auch Männer mag. Mit ihm sprach Wilfried ausführlich und gern über seine Erfahrungen mit der Männerliebe; ein Thema, das er mit den Nachbarn aussparte.

Da war er der kultivierte ältere Herr, der mit Humor das Zeitgeschehen kommentierte, Klassiker zitierte und es sich nicht anmerken ließ, dass er, der von seinem Bett auf sein eigenes verblichenes Porträt als Jüngling blickte, sehr allein war.

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