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Berlin: Norbert Rüster (Geb. 1954)

Besonders wichtig im Bundestag: die Kantine

Auf seiner Facebook-Präsenz stand der Spruch: „Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der es gerecht zugeht, die sich nachhaltig organisiert und im Einklang mit der Natur lebt. Ganz schön weltfremd. Oder?“ Den Weg zu einer solchen Gesellschaft ging Norbert aber ganz pragmatisch: Mit den Naturfreunden Berlin demonstrierte er gegen Atomkraft, beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club kämpfte er für bessere Radwege, bei Ver.di organisierte er sich für die Rechte der Arbeitnehmer, und beim Berliner Umweltstammtisch sorgte er bei Bier und Witzen für eine gesunde Atmosphäre.

Als 2008 eine neue Mitarbeiterin aus dem Saarland in den Deutschen Bundestag zur SPD-Abgeordneten Astrid Klug nach Berlin kommt, sagt man ihr: „Geh doch mal zum Norbert, der erklärt dir den Laden hier.“ Kurz darauf steht sie vor dem Büroleiter, einem kleinen, sportlichen Mann mit kurzen Haaren, Schnauzbart, Knollennase, längsgefurchter Stirn und hellen Augen, die abwechselnd verschmitzt und verträumt schauen, manchmal sogar leicht abwesend, als blickten sie in eine bessere Welt, und dann wieder klar und herzlich, als hätte die Vision den Blick auf das Hier und Jetzt erfrischt.

Norbert tut, was ohnehin seine Spezialität ist: Er gibt Vanessa, der Neuen, eine kleine Führung durch den Bundestag. Etliche Besuchergruppen hat er schon durch die Korridore und Hallen geführt. Freundlich und kompetent hat er sie mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass Politik und Politiker so schlimm gar nicht sind. Anschließend führt er Vanessa zu einem besonders wichtigen Ort, in die Kantine. Da Norbert abnehmen möchte, studiert er die Kalorienangaben auf den Tafeln und wählt ein Pasta-Gericht und einen Obstsalat. Anschließend bestellt er aber doch noch einen Latte Macchiato und einen Eisbecher.

Die Neue und der Alte freunden sich an. Radtouren, politische Diskussionen bei Kaffee oder Rotwein, Restaurantbesuche, exzessive Spieleabende mit Freunden. In der Kantine wird gemunkelt, das könnte doch ein Verhältnis sein, aber danach steht beiden nicht der Sinn. So kontaktfreudig Norbert ist, so verschlossen kann er sein: Über seine Familie, seine Kindheit oder seine verflossene Lebensgefährtin erzählt er so gut wie nichts. Was man weiß: Er ist Einzelkind, geboren in Kreuzberg, aufgewachsen in Charlottenburg. Vater und Mutter starben, als er noch Jura studierte. Seitdem bewohnt er die elterliche Wohnung in der Fritschestraße allein. Er hat sie sich schön eingerichtet: Pflanzen, Blumen, Regale voller Bücher und Brettspiele, an den freien Wänden Bilder und Fotos, zum Beispiel vom verhüllten Reichstagsgebäude. Auch eigene Fotos sind zu sehen, denn Norbert hält mit seiner Spiegelreflexkamera Motive aus Berlin und Umland fest, meist bei Touren auf seinem schwarzen Mountainbike mit dem „CO2-frei“-Aufkleber. Norbert bläst lieber Nikotin in die Luft.

Mit Widersprüchen kann er leben: Obwohl überzeugter Pazifist und Kriegsdienstgegner, trägt er einen Schlüsselanhänger mit Che-Guevara-Konterfei. Als er den bei einem gemeinsamen Essen mit „Seeheimern“, rechten Sozialdemokraten“, auf den Tisch legt, trübt sich die Atmosphäre. Norbert nimmt das zum Anlass, seine Ansichten zu erläutern: Die SPD solle wieder zu ihren Idealen finden und die einfachen Arbeiternehmer vertreten, anstatt den Lobbyisten und Unternehmern in den Hintern zu kriechen. Manche meinen, für eine politische Karriere sei Norbert zu wenig diplomatischer Stratege gewesen.

Bei der Bundestagswahl 2009 verlieren 75 SPD-Abgeordnete ihr Mandat. Darunter Astrid Klug. In der Wahlnacht schreibt Norbert Vanessa eine SMS: „Mist“. Er ist jetzt arbeitslos. Er bleibt voller Hoffnung und neuer Ideen, aber Zukunftssorgen plagen ihn dennoch, das Gefühl, zum alten Eisen zu gehören. Alter, Krankheit und Tod waren nie seine Themen. Wäre der Tod eine Person: Norbert würde eine Schnute ziehen, die Arme vor der Brust verschränken und schmollend ein paar Meter vorausgehen.

Am 11. Februar geht Norbert wieder einmal mit seinem Freund Helmut schwimmen. Hinterher, in einem Restaurant, klappt Norbert plötzlich am Tisch zusammen. Hinterwandherzinfarkt und ein Gerinnsel an der Hauptschlagader.

Beerdigt wird er in Schöneberg. Auf sein Grab wird ein Baum gepflanzt. In einem Trauerbuch schreibt seine Freundin Nina von den „Naturfreunden“: „Mensch Nöbbes, alte Rakete. Jetzt biste weg – und irgendwie geht es mir immer noch nicht in den Kopf. Wer bringt uns denn jetzt die alten Arbeiterlieder bei?“ Anselm Neft

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