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Der Alte St.- Matthäus-Kirchhof an der Großgörschenstraße in Berlin-Schöneberg.

© Doris Spiekermann-Klaas

Nachruf auf Rudolf Dobbrow (Geb. 1933): Nie: „Das schaffe ich nicht“

Mit 33, als das Schlimmste überwunden schien, bekam er seine Diagnose: Multiple Sklerose. Die Ärzte gaben ihm nur wenig Hoffnung. Aber er kämpfte eisern, auch wenn er immer weniger konnte und immer mehr Schmerzen hatte.

Wollte sie wirklich noch einmal von vorne anfangen – mit ihm? Sie, die Musikfrau, die Sängerin, und er, der Polizistenmensch. Ein Leben hatten sie beide bereits gelebt, einmal schon geliebt, Kinder bekommen, Glück gespürt, Leid ausgehalten und den ersten Partner in den Tod begleitet. Will man all das noch mal?

Rudolf, der große, schlanke Mann, ernst und eisern, versehen mit einem Panzer aus Verantwortungsbewusstsein und Disziplin. Inge, die kleine, aparte Frau mit dem schönen Lachen und der Lust am Dasein. So lernten sie sich kennen, so erzählten sie sich aus ihrem Leben. Sie, die Berlinerin. Er, ein Junge aus Sonnenburg, einem Städtchen im heutigen Polen.

„Du verfluchter Bengel“, brüllte seine Großmutter durch das Gehöft. Dieser Lausejunge, ein Nachzügler, aber das große Glück seiner Eltern. Barfüßig machte Rudolf sich über die Felder davon zum kühlen Fluss, um mit den Nachbarjungs um die Wette zu schwimmen. Vater und Mutter waren auf dem Feld, bei den Kühen oder den Schweinen. Sie ackerten, bis die Sonne unterging. Einfach und hart war ihr Alltag, aber ein jeder hatte seinen Platz darin. Auch der sowjetische Kriegsgefangene, der ihnen zur Zwangsarbeit zugeteilt worden war, saß mit am Tisch.

Mit eiserner Disziplin durchstand sein Vater die Plackerei. Seine Mutter aber, da war Rudolf sich sicher, hatte das viele Beugen, Hacken und Tragen viel zu früh ins Grab gebracht.

Abschlusszeugnis und weg, doch was nun?

April 1945, die Front kam zurück, der Vater musste ins letzte Aufgebot. Der Zwangsarbeiter lotste die Frauen und Kinder mit ihren Koffern und ihrem Pferdewagen durch den Bombenhagel und den Fliegerbeschuss, soweit es für ihn ging. Kaum waren sie über die Oder und nach Seelow gelangt, kaum hofften sie, ein wenig durchatmen zu können, gerieten sie in die letzte große Schlacht vor Berlin. Entsetzliches Gedröhne, entsetzliche Angst, Granaten und überall Leichen, kleine und große. Bilder, die der zwölfjährige Rudolf speicherte. Das Schlimmste: Sie mussten die kranke Großmutter zurücklassen.

In Berlin schlüpften sie bei einem Onkel unter. Bei ihm begann Rudolf eine Klavierbauerlehre. Im ersten Jahr verdiente er 30, im zweiten 40 und dann 50 Mark im Monat. Aber glücklich würde er hier nicht werden, denn ihm fehlten das Gehör, die Geduld und auch die Liebe zu dem Instrument.

Abschlusszeugnis und weg. Doch was nun? In der ganzen Stadt hingen Plakate. Darauf junge Männer, stark und gutaussehend: Du wirst gebraucht, du wirst gut verdienen, du bist abgesichert, komm zu uns und werde Polizeibeamter. Also meldete er sich, bestand den Sporttest, ließ sich in eine Uniform stecken, einen Knüppel und eine Pistole geben. Streife, Bereitschaft, Wache, Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Der Dienstrhythmus bestimmte von nun an seinen Tag.

Mit 33 bekam er seine Diagnose

Aber die Gewalt, die er erlebte, die er ausüben musste, machte ihn fertig. Die Schlägereien, das Rumgebrülle, die Festnahmen, die Auflösung von Demonstrationen, all das setzte ihm zu, wiedersprach seinem Gemüt und seinem Herzen. Bei der Schah-Demonstration 1967 war er auch dabei. Führte Befehle aus und schützte einen Despoten. Dass der Ohnesorg erschossen wurde, ließ ihn nicht mehr los. Er stand auf der Seite der Täter. Gerne hätte er den Dienst quittiert. Doch einfach irgendwo neu anfangen, das klappte nun nicht mehr.

Und dann begann das linke Bein zu lahmen. Die Hände zitterten. Multiple Sklerose, mit 33 bekam er seine Diagnose, lange zu leben hätte er nicht mehr, sagten ihm die Ärzte.

Da saßen sie nun zusammen. Er, seine Frau Christa und seine zwei kleinen Kinder. „Es wird schon gehen“, sagte Rudolf. Und was kommen sollte, überlebten sie, weil Rudolf die eiserne Disziplin im Blut hatte. Als er schon im Rollstuhl saß, seine Frau Krebs bekam und immer wieder ins Krankenhaus musste, kochte er, kaufte ein, kümmerte sich um Frau und Kinder. Rudolf hielt durch, ging weiter zur Arbeit, in den Innendienst, verdiente das Geld für die Familie.

Streng war er nicht nur zu sich, sondern auch zu seinen Kindern. Für Schabernack oder Trotz fehlte es an Zeit und Kraft. Dass sie das Abitur machen und studieren konnten, dass etwas aus ihnen wurde, war das Wichtigste. Sein Sohn schrieb ihm später einen Brief: „Du bist mir ein großer Vater gewesen, und du bist es immer noch. Deinen Lebensmut, trotz allem, habe ich immer bewundert. Deine Liebe zu Mama, zur Familie hat mich froh gemacht.“ In dem Brief ging es auch um Rudolfs Zorn, um seine Verzweiflung, seine Hilflosigkeit. Was macht es mit zwei Kindern, wenn sie mit zwei schwerkranken Eltern aufwachsen, die bald sterben könnten?

Christa starb, dann traf er auf Inge

1987 wurde Christa nach Hause gelassen, austherapiert, verzweifelt. Ihre Tochter unterbrach ihr Studium, kam nach Hause und pflegte sie in den letzten Wochen. Christa starb mit 49, Rudolfs erste große Liebe, die Mutter seiner Kinder, die Frau, mit der er so viel durchgestanden hatte. Zurück blieb Rudolf. In Pension, alleingelassen mit sich und seinem Panzer. Schon sprach er davon, dass er nicht mehr wolle, dass es vielleicht besser sei, wenn er in ein Pflegeheim ziehen würde.

Doch dann traf er auf Inge. Sie zogen zueinander und ließen sich segnen, eine Heirat vor Gott, aber nicht vorm Staat. Und Rudolf wurde ein anderer. Das Ernste fiel ab, weil es nicht mehr gebraucht wurde. Was übrig blieb, war weich und charmant, mild und gütig.

Rudolf war ein Mann im Rollstuhl. Einer, der immer weniger konnte, der immer mehr Schmerzen hatte. Und er war einer, der sich nie darüber beklagte. Im Gegenteil, er beglückwünschte sich für jede neue Woche, die anbrach und die er noch am Leben war. Inge und auch seine vielen Freunde hörten nie ein Wort des Bedauerns. Nie ein: „Heute tut es mir besonders weh.“ Nie ein „Das schaffe ich nicht.“ Stattdessen immer ein „Ich mache das alleine.“

Selbst aufstehen, selbst anziehen, selbst Frühstück zubereiten und essen, selbst den Anstieg mit dem Rollstuhl hinauffahren, auch wenn all das mitunter Stunden dauern konnte, Rudolf bestand auf seiner Eigenständigkeit. Und jeden Tag absolvierte er sein Gymnastikprogramm und seine Hautpflege. Auf seinen Hintern war er besonders stolz, weiche Haut, ansonsten alles straff, alles Muskeln, überlebenswichtig für einen, der den ganzen Tag sitzt. Rudolf wurde 70, 80, wer hätte das gedacht.

Sein letzter Wunsch ist in Erfüllung gegangen

Einmal musste er für acht Tage in ein Krankenhaus, zur Beobachtung. Die Schwestern vergaßen, ihn zu drehen und ihn einzucremen. Als er entlassen wurde, hatte er eine offene Wunde, die nie wieder verheilen wollte. Als ein Freund und Anwalt ihm riet, das Krankenhaus zu verklagen, winkte er ab: „Ach, die armen Schwestern sind die ganze Nacht von hierhin nach dorthin gerannt, die können doch nichts dafür.“

2016 musste Rudolf in ein Pflegeheim. Jeden Mittag kam Inge ihn besuchen. Als Erstes sprachen sie über die Radio-Sendung „Worte für den Tag“, die sie morgens, jeder für sich, gehört hatten. Das schaffte er. Mit der rechten Hand, dem einzigen Körperteil, das er noch bewegen konnte, hielt er sich das kleine Radiogerät ans Ohr und hörte in die Welt hinaus.

Wenn Inge sich um ihn sorgte, sagte er, dass die Sonne heute so schön aufgegangen sei, dass die Vögel so schön zwitscherten. Als sie ihn fragte, ob er einen Fernseher wollte, lehnte er ab: „Ich brauche so viel Kraft, um mich aufs Leben zu konzentrieren.“ Wenn sie zusammen lachten, kamen die Krankenschwestern und Pflegerinnen ins Zimmer und setzten sich dazu. „Wir wollen auch mal lachen“, sagten sie. Wenn Inge dann nach Hause ging, beteten sie das „Vater Unser“ und verabschiedeten sich mit den Worten: „Bleib behütet, bis morgen.“

Sein letzter Wunsch, vor seiner Inge zu sterben, ist in Erfüllung gegangen.

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