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Berlin: Nie wieder Gammelfleisch

Ich liege mit dem Bauch auf dem Boden. Das geschieht selten und nie freiwillig.

Ich liege mit dem Bauch auf dem Boden. Das geschieht selten und nie freiwillig. Frau Hoffmann hat mich in diese unbequeme und unwürdige Lage gebracht, indem sie von meinem Arbeitstisch eine silberne Pillendose in den Abgrund wedelte, welche in einer lang gezogenen Kurve unter eine kurzbeinige Nussholztruhe rollte. Das Leben ist im fortgeschrittenen Stadium ohne Pillendose nicht denkbar; auch wenn man darin Büroklammern aufhebt. Also liege ich vor der Truhe und presse mein Gesicht auf den Teppich, um den silbernen Behälter (verziert, Ende 18. Jahrhundert) zu entdecken und zu bergen. Ich sehe nichts und drehe den Kopf.

Ich will nicht behaupten, dass es mich erschreckt, aber nur zehn Zentimeter vor meiner Nase liegt auch die Katze auf dem Bauch und schaut genau so neugierig wie ich ins staubträchtige Dunkel. Dann sehen wir uns wortlos an. Ich richte mich mühsam auf, vielleicht nimmt sie die Dosensuche später wieder auf. Sie reckt sich und beginnt unvermittelt mit ihrem Prolog:

„Ich habe das Papier eures Papstes noch einmal gelesen. Die Enzyklika, du weißt, über die wir beim letzten Mal geredet haben.“

„Ja, über Caritas ...“

„Da steht aber noch was drin, das von ein paar Halblinken nun ständig zitiert wird.“

„Du meinst seinen Appell für soziale Gerechtigkeit?“

„Genau. Er sprach vom ,zügellosen Kapitalismus’. Was meint er damit?“

„Vielleicht hat er die Passauer Fleischfabrik gemeint, die aus reiner Profitgier verdorbenes Katzenfutter verkauft hat.“

„Katzenfutter? Willst du sagen, du hast mich mit Gammelfleisch gefüttert?“

„Alle haben wir Gammelfleisch gegessen. Nicht nur Katzen und Bayern. Auch Hunde und Protestanten.“

Dass Hunde unter den Betroffenen sind, beruhigt sie sofort. „Ich bin auch gegen leinenlosen Kapitalismus. Hunde gehören an die Leine! Leinenlose Hunde dürfen vernünftigerweise nicht einmal auf den Friedhof.“

„Zügellos hat er gesagt! Das weist auf Pferde hin.“

Frau Hoffmann ist verwirrt: „Wie kommen Pferde auf den Friedhof? Und was haben sie mit dem Kapitalismus zu tun?“

Schwere Frage. Aber was weiß sie, die hier das Haus nicht verlässt, über das Hundeverbot auf dem Friedhof?

Sie erklärt es mir:

„Ich habe zugehört, wie sich auf dem Söller zwei Tauben über den Friedhof unterhielten. Von kapitalistischen Pferden haben sie nichts gesagt.“

„Natürlich nicht. Das war Benedikt XVI. Der meinte übrigens keine zügellosen Pferde, sondern den zügellosen Kapitalismus.“

„Richtig. Das Gammelfleisch auf Friedhöfen.“

Ich mache ein paar Lockerungsübungen. Frau Hoffmann reibt sich das linke Ohr, bevor sie weiterspricht: „Ich habe eine Dame gesehen, die ritt stehend auf einem zügellosen Pferd!“

„Auf dem Friedhof?“

„Nein, im Zirkus. Sie hatte nackte Beine. Danach kam eine Tigernummer!“

„Im Katzenkanal, nehme ich an.“

„Was meinst du, werden die Tiger auch mit Gammelfleisch gefüttert?“

„Sorgst du dich um deine Verwandten?“ – „Klaro. Würdest du doch auch, wenn deine Familie im Käfig auftreten müsste, oder?“

Ob sie wirklich so naiv ist? Ich muss sie warnen: „Ist dir eigentlich klar, dass dich deine lieben Verwandten auf der Stelle fressen würden, wenn sie nicht im Käfig wären?“

Frau Hoffmann sieht mich nachsichtig an und schüttelt den Kopf.

„Das war gestern. Seit die Enzyklika auf der Welt ist mit der Caritas und dem zügellosen Kapitalismus, sind wir Tiere nett zueinander.“

Jetzt muss ich erst rauskriegen, wie sie an die Bild-Zeitung gekommen ist. Danach gehe ich in die Zoohandlung und kaufe ihr eine lebende, weiße Maus.

— Der Autor ist Deutschlands bekanntester Gastrokritiker und kennt sich auch bei Katzen aus. Ganz besonders bei Frau Hoffmann, seiner schlauen Mitbewohnerin. Sie hat zu allem etwas zu sagen.

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