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Berlin: Normal leben lernen

Im Therapieprojekt „MaLe“ wohnen sexuell auffällige Jugendliche. Missbrauch gibt es in ihren Familien oft seit Generationen

Der Fall hat viele Lankwitzer erregt. Sexuelle Gewalt! Ein Triebtäter! Es dauerte nur ein paar Stunden, bis sich das Gerücht von einer Massenvergewaltigung an einem Mädchen verbreitete. Die Realität sah anders aus: Ein 16-jähriger Junge aus einer Wohngruppe hatte das Mädchen an einer Bushaltestelle angesprochen. Er würde ihr gern einen Kuss geben. Nö, sagte das Kind, keine Lust, stieg in den Bus und fuhr davon.

Karsten Köster, der Leiter der Lankwitzer Wohngruppe „MaLe“, versteht noch heute nicht ganz, wie die Situation hinterher derart eskalieren konnte. MaLe, eine Einrichtung des evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks EJF Lazarus, beherbergt acht Jungen zwischen 12 und 18 Jahren, die, so der Therapeuten-Slang, „sexuell übergriffig“ geworden sind. Eine Gefahr für die Öffentlichkeit sind sie nach menschlichem Ermessen nicht. Dennoch ist der Versuch, eine zweite Wohngruppe dieser Art im Diakoniezentrum Heiligensee einzurichten, Anfang des Jahres von einer Welle der Empörung weggefegt worden. „Sexuell“: Das Reizwort reicht inzwischen, um notwendige therapeutische Arbeit zu diskreditieren. Ja, es muss sein. Aber nicht bei uns!

Auch in Lankwitz stand die Sache damals auf der Kippe. Köster musste viel diskutieren, doch es gelang, die Wogen zu glätten. In Heiligensee aber „ging es so schnell, dass uns niemand mehr hören wollte“, wie er sagt.

„Übergriffig“ – das ist das Kürzel für sexuelle Handlungen, die sich fast ausschließlich in der Familie abspielen oder im „familiären Nahbereich“, bei Nachbarn, Verwandten, Freunden. Fast eine Art Normalfall: Brüder, die eine kleinere Schwester missbrauchen, manchmal über Jahre. So etwas kommt nicht von ungefähr, ist nicht Ausdruck normaler sexueller Entwicklung, wie die Therapeuten wissen – die Grenze zu harmlosen „Doktorspielen“ ist fließend, aber meist deutlich definierbar, zumal, wenn es nicht mehr um Kinder, sondern um pubertierende Jugendliche geht.

Dies geschieht meist in von Gewalt und sexuellen Übergriffen gezeichneten Familien. Oft sind die späteren Täter selbst geschlagen und sexuell misshandelt worden und erleben den verbotenen Sex als eigene Machterfahrung. Oft tritt das ganze Ausmaß der Katastrophe erst über Jahre zu Tage. Köster berichtet von Familien, in denen Missbrauch über Generationen hinweg gewissermaßen Tradition hat: Eine Frau verlässt mit Sohn und Tochter ihren Mann, weil der sie immer wieder verprügelt hat. Später wird der Junge mit seiner Schwester im Bett erwischt, der neue Lebensgefährte der Mutter schaltet das Jugendamt ein. „Dabei kommt heraus, dass das Mädchen nicht nur jahrelang von ihrem Vater, sondern auch vom Großvater sexuell missbraucht wurde“, berichtet Köster – und fügt die brutale Pointe an: „Daraufhin klappt die Mutter zusammen, weil die verdrängte Wahrheit hochkommt, dass auch sie von Vater und Großvater missbraucht wurde.“

Fast ein Wunder, wenn es den Jugendlichen in dieser Lage gelingt, richtig und falsch unterscheiden zu lernen. Meist ist es das Jugendamt, das einen solchen Fall aufdeckt und Kontakte zu Beratungsstellen aufnimmt, sofern nicht sogar Polizei und Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden. Doch auch dann kann das Ergebnis der Ermittlungen sein, dass der betreffende Junge an eine Wohngruppe wie „MaLe“ vermittelt wird. „Wir prüfen zunächst, ob der Junge Fremde gefährden könnte, ob er fremde Kinder ins Gebüsch zerren würde – dann nehmen wir ihn nicht“, sagt Köster.

Sehr häufig versuchen die Jungen, ihr Tun zu verharmlosen, „aber wir erwarten schon eine ganze Menge von ihnen und sind am Anfang oft sehr hart.“ Die Basis ist Freiwilligkeit: Wer nicht in der Gruppe bleiben will, für den müssen die Behörden andere Lösungen finden. Und ganz am Anfang kümmern sich die Betreuer eng und intensiv um jeden, dann wird Schritt für Schritt gelockert, bis am Ende nur noch die Beschränkungen der Hausordnung gelten. Ohnehin ist das Haus nicht besonders gesichert: Das einzige Gitter schützt nur das Chefbüro.

Das Lernziel ist klar: Leben lernen, ungefähr so, wie ein Alkoholiker lernt, mit seiner Sucht umzugehen. Auch bei den sexuell „übergriffigen“ Jungen gibt es Rückschläge, und die Reaktion der Betreuer ist in der Regel hart. Der Junge, der an der Haltestelle auf einen Kuss aus war, wurde intern zurückgestuft und durfte eine Weile nur mit Begleitung hinaus, wurde auch auf dem Schulweg beaufsichtigt. Zur Schule gehen prinzipiell alle – schon das macht deutlich, wie überzogen die Aufregung der Heiligenseer Bürger war. „Die meisten Außenstehenden entwickeln kein rechtes Augenmaß“, analysiert Ewald Möller, „wenn wir sagen, man muss auf die Jungen aufpassen, dann wird das aufgenommen, als seien sie schon auf der Seite der Triebtäter. Richtig ist aber: Sie könnten dahin abgleiten, und deshalb müssen wir jetzt eingreifen.“ Viele schaffen es später zurück in ein ganz normales Leben, finden Freundinnen – oder auch Freunde. Hetero oder Homo, das beeinflussen die „MaLe“-Betreuer nicht, nur Sex im Wohnheim ist generell tabu.

In Heiligensee wollte das EJF Plätze für Jungen schaffen, die neben ihrer Sexualproblematik auch lernbehindert sind, bis zur Grenze der geistigen Behinderung. Der Charme des Orts lag in der Möglichkeit, den Jungen später ganz in der Nähe auch betreute Wohngruppen für junge Erwachsene anbieten zu können. Dieser Plan ist Geschichte. Dennoch hat das EJF jetzt in einer Charlottenburger Wohnung erste Plätze dieser Art eingerichtet – sachlicher Neuanfang statt großer Aufregung.

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