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Berlin: Nuri Karademirli (Geb. 1950)

Was zählte es hier, dass er in seiner Heimat als einer der Besten galt?

Die Frau des Werftarbeiters Mehmet Karademirli in Izmir wollte Geige lernen. Noch nie war jemand aus ihrer Familie durch musikalische Begabung auffällig geworden, sie aber blieb dabei: Leman Karademirli lernte Geige.

Es war immer dieselbe Szenerie: Sie saß vor dem Lehrer, und an der Wand saß ihr kleiner Sohn und wartete, und immer, wenn Nuri Karademirli glaubte, jetzt keinen Augenblick länger still sitzen zu können, versuchte er, sich daran zu erinnern, was seine Mutter gesagt hatte: Du musst leise sein! Du darfst nicht stören! Das war die Bedingung, dass er mitkommen durfte. Es gab nichts zu sehen, nichts zu hören in diesem Raum außer der Mutter, der Geige und dem Lehrer, doch das war genug.

Die Minderbegabten müssen üben, wenn sie ein Instrument lernen. Er aber hörte und schaute nur zu: Vor Nuri Karademirli, vier Jahre alt, öffnete sich die Welt der Musik. Kein Griff des Lehrers entging ihm. Und der bemerkte die Konzentration des Jungen. Dann kam der Tag, als der Lehrer seiner Mutter einen Vorschlag machte: Wie wäre es, wenn sie einfach die Plätze tauschten? Wenn er ab sofort nicht mehr sie, sondern ihren Sohn unterrichten würde.

Nuri Karademirli lernte Geige spielen. Aber warum nur Geige? Warum nicht auch Baglama?

Die Baglama ist die türkische Langhalslaute, ein uraltes Instrument. Sie zu hören heißt zu wissen: Musik ist Heimkehr, sie birgt die Seele einer Kultur. Die türkische Volksmusik ist nicht denkbar ohne die Baglama. Als Nuri Karademirli sechs Jahre alt wurde, gab er sein erstes Baglama-Konzert: im Fernsehen. Es war eine Talente-Show. Und nun geschah etwas Seltsames. Die größten Musiker des Landes meldeten sich bei dem Werftarbeiter Karademirli, und alle wollten sie das Gleiche: seinem Sohn Unterricht geben. Denn wer so Baglama spielt, sollte der nicht auch Oud spielen können?

Die Oud ist die türkische Kurzhalslaute, auch sie ein uraltes Instrument. Aber während die Baglama für die Volksmusik steht, ist die Oud das Hauptinstrument der türkischen klassischen Musik.

Voller Stolz besah der Vater seinen Sohn. Trotzdem zerschellten zwei Kurzhalslauten im Abstand von zwei Jahren an der Wohnzimmerwand der Karademirlis. Beide Male war es der Tag der Zeugnisausgabe. Kleinholz! Zufrieden besah der Vater sein Werk. Nichts würde der schulischen Laufbahn seines einzigen Sohnes nun mehr im Wege stehen.

Doch der jäh von der Last des täglichen Übens Befreite benahm sich eigenartig. Als hätte er Mutter, Vater und Geschwister am selben Tag verloren. Kein Zweifel, Nuri war zum Waisenkind geworden, der Hinterbliebene eines Musikinstruments. Zwei Tage lang wartete der Vater, dann prüfte er den Füllstand seines Portemonnaies und betrat zögernd, doch entschlossen eine Musikalienhandlung.

Der Vater starb, als Nuri Karademirli 13 war. Er war jetzt allein mit der Mutter und seinen Schwestern: Nun war er das Familienoberhaupt, war er der Ernährer. Sein Tagesablauf begann, sich erheblich von dem seiner Mitschüler zu unterscheiden. Morgens ging er zur Schule, abends spielte er Fasil.

Fasil heißt die etwas gehobene, festliche Begleitmusik zum etwas gehobenen, festlichen Tagesabschluss etwas gehobener festlich gekleideter Leute. Das war schon im Osmanischen Reich so. Es ist Musik in flagranti, drei Stunden lang ohne Pause zu spielen. Man braucht zwei Sänger, eine Oud, eine Geige, eine Zither, eine Bendir und eine Darbuka. Nuri spielte die Oud. Immer war er der Jüngste, doch alle wussten, auf ihn ist Verlass.

Ende 1979 kam er nach Berlin. Es war eine Tournee, Berlin die Stadt für ein paar Auftritte, nichts weiter. Seine Mutter saß im Publikum. Sie genoss den Erfolg ihres Sohnes, schließlich war sie seine Urheberin. Aber an diesem Abend war es anders. Die Musik drang wie durch einen Schleier zu ihr, es war ein Schleier aus Schmerz, er kam von der Wirbelsäule. Wann hatte das angefangen? Stunden später konnte sie nicht einmal mehr laufen.

Ein Berliner Krankenhaus nahm Leman Karademirli auf. Die anderen fuhren weiter, Nuri Karademirli aber musste bleiben, er konnte seine Mutter nicht allein in dieser fremden, kalten Stadt zurücklassen. Das kann lange dauern, lautete der Wirbelsäulenbefund der Ärzte. Wieder hatte Leman Karademirli die Weichen im Leben ihres Sohnes gestellt.

Was zählte es hier, dass er in seiner Heimat als einer der besten Oud-Spieler seiner Generation galt? Er kannte niemanden, die meisten Berliner Türken kamen vom Land, er kam aus der Stadt. Er fand Arbeit als Hilfsverkäufer bei Hertie, besuchte seine Mutter im Krankenhaus und lernte Deutsch. Englisch konnte er schon, es fiel ihm nicht schwer, alles andere schon. Manchmal trat er abends im „Istanbul“ in der Knesebeckstraße auf oder in türkischen Clubs.

Vielleicht bleibt man an einem Ort nur deshalb, weil man immer wieder den richtigen Augenblick verpasst zu gehen. Er lernte eine Frau kennen, heiratete, hatte zwei Kinder und ließ sich wieder scheiden. Er stieg bei Hertie zum Leiter der Herrenkonfektion auf, besuchte internationale Kleidermessen in Paris oder Mailand. Das war nun sein Leben. War es sein Leben?

Und dann traf er Halime. Genauer: Er traf sie wieder. Zum ersten Mal sind sie sich bei einem Konzert in Izmir begegnet, er spielte Oud, sie hörte zu, da waren sie beide noch ganz jung. Jetzt spielte er wieder, sie hörte wieder zu, doch diesmal in Berlin. Sie waren beide geschieden, hatten beide zwei Kinder. Also haben wir vier, wussten sie bald. Vier plus eins. Das ist die Arithmetik der Liebe. Sie hatte bei Telefunken gelernt, war Facharbeiterin für Elektronik und Mitinhaberin eines kleinen Unternehmens, das automatische Türöffner herstellte: Sensoren, die auf Annäherung reagieren.

Automatische Türöffner? Sensoren, die auf Annäherung reagieren? Nuri Karademirli war dieser Effekt durchaus vertraut, seine Oud brachte sie auch hervor, was der Leiter der Hertie-Herrenkonfektionsabteilung nach wie vor auf den Bühnen der Welt erprobte. Aber wie diese Wirkung weitergeben?

Nuri Karademirli hatte inzwischen einen türkischen Chor gegründet. Er konnte der Herrenkonfektion nicht die Alleinherrschaft über sein Leben überlassen. Chorleiter sind Menschen, die eine falsch gesungene Note in den seelischen Ausnahmezustand versetzen kann. Jeder gute Chorleiter ist ein Diktator, seine Legitimation ist die Kunst, näherhin die Liebe. Der Friedenauer Frauenchor fragte sich, ob er seiner Strenge gewachsen sei – und kam zu der Erkenntnis, dass ein Chorleiter so wie dieser sein muss und nicht anders. Ein liebender Tyrann, gewissermaßen. Vielleicht hat der Friedenauer Frauenchor das anders formuliert. Wer viel empfangen hat, wusste Nuri Karademirli, muss auch weitergeben.

Irgendwann war er einfach da, der Plan eines Konservatoriums für türkische Musik in Berlin. Der Einsatz war denkbar groß. Die Karademirlis verkauften ihren Anteil an der Elektronikfirma.

1998 eröffnete das Konservatorium, von der Berliner Politik anfangs eher misstrauisch beäugt und nie gefördert. Gelehrt werden Baglama, Oud, Ney, Tanbur, Kanun und Kemane ebenso wie Geige, Gitarre oder Klavier. Seit wann sind Geige, Gitarre und Klavier türkische Instrumente? Warum auch die?, fragten die Abgesandten vom geschlossenen Kulturbegriff. Doch so hat Nuri Karademirli nie denken, nie fühlen können, und vor allem: So hat er nie Oud spielen können. Musik reicht weit zurück an die Ursprünge, doch ihr Atem geht ins Offene. Nuri Karademirli war als Lehrer wohl wie die Musik selbst: Seine Heftigkeit entsprach seiner Sanftheit, seiner Fürsorglichkeit.

Er trug seine Begeisterung in Berliner Klassenzimmer und lehrte an der Universität der Künste; die Schüler seines Konservatoriums spielten auf Straßenfesten ebenso wie in der Philharmonie. Erst jetzt schien sein Leben die richtige Rundung zu erlangen, sein ureigenes Gleichgewicht zu finden. Auch wenn er meinte, keine Zeit mehr für eigene Auftritte zu haben auf den Bühnen der Welt. Wahrscheinlich hast du recht, sagte dann seine Frau, aber ich habe den Flug schon gebucht!

Was ist Musik? Die Beziehung zwischen Klang und Stille. Klang ist Leben, die Stille ist der Tod. Der Musiker, in seinen besten Augenblicken, hält sie beide in der Hand. Der Infarkt kam ohne Ankündigung. Nuri Karademirli hatte Unterricht gegeben, wollte vom Konservatorium in der Bergmannstraße nach Hause fahren. Man hat ihn im Auto gefunden. So viel Stille war nie. Es waren nur noch Tage bis zu einem gemeinsamen Konzert mit den Berliner Symphonikern in der Philharmonie. Kerstin Decker

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