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KOOPERATIONSPARTNER REHATEST: Ohne Gehhilfe durchs Leben kommen

Geriatriepatienten sind hochbetagt und kommen mit vielen verschiedenen Leiden in die Rehabilitation. Ihr Therapieziel: weiterhin fit genug zu sein, um in der eigenen Wohnung bleiben zu können. Das klingt einfach, doch ist es nur mit schwerer Arbeit zu erreichen

„Wenn ich noch mal Hochzeit mache, immer nur mit dir“, singt der Mann am Akkordeon. Und Inge Hoffmann legt dazu eine Polka aufs Parkett, dass ihren Gästen schwindelig wird. „Glaubt man nicht, dass die schon 70 ist“, sagen sie. Genau in diesem Moment ist da eine kleine Schwelle im Parkett. Sie bremst Inge Hoffmanns Geburtstagstanz abrupt. Das Akkordeon quäkt noch einmal, dann liegt Inge Hoffmann auf dem Boden. Ihr erster Impuls, nachdem sie sich aufgerappelt hat, gleich weiterzutanzen, wird durch ein seltsames Knirschen im linken Arm gestoppt. Im Krankenhaus wird ein komplizierter Splitterbruch diagnostiziert. Eine Geburtstagserinnerung, die ihr auch heute, 13 Jahre später, noch Schwierigkeiten macht.

Die Beweglichkeit und Muskulatur von Hoffmanns linker Hand wurde zuletzt immer schlechter. „Wenn die Hand aber nicht mehr funktioniert, dann kann ich’s gleich vergessen“, sagt sie und meint, dass sie aus ihrer Wohnung in Friedrichsfelde in ein Heim umziehen müsste. Weil Inge Hoffmann eine Kämpfernatur ist, lässt sie sich ihre Selbstständigkeit nicht so leicht nehmen. Helfen soll dabei eine ambulante geriatrische, das heißt altersmedizinische Reha.

Heute sitzt Hoffmann mit anderen Patienten zur Hockergymnastik in einem Kreis. Die Räume im fünften Stock des Sankt-Gertrauden-Krankenhauses in Berlin-Wilmersdorf sind hell. Drei Mal in der Woche kommt sie hierher, von 9 bis 16 Uhr. Corinna Reiter, Physiotherapeutin in der Ausbildung, hat blaue Gummibälle verteilt. Koordination und Konzentration sollen verbessert werden. Frau Hoffmann dribbelt, als wollte sie ein Basketballturnier gewinnen. „Ich muss die Zeit hier nützen“, sagt sie. Drei Jahre hat sie auf die Reha warten müssen, immer wieder habe die Krankenkasse ihren Antrag abgelehnt.

„Das passiert leider in vielen Fällen“, sagt Martina de la Chevallerie, Chefärztin im Bereich ambulante geriatrische Reha. Sowohl der behandelnde Arzt als auch die Patienten müssten einen Antrag auf die Reha stellen. Der Arzt erführe aber anschließend nicht, ob sie genehmigt wurde und viele Patienten gäben sich mit einer Absage zufrieden. Deshalb berät die Ärztin, wie man bei Ablehnung einen Einspruch formuliert. Danach werde die Reha meist genehmigt. „Gerade eine ambulante Reha ist für die Kassen günstiger als die Pflege, die der Patient braucht, wenn er seine Selbstständigkeit verliert.“

Es gibt allerdings Voraussetzungen für die Reha: Der Patient sollte in der Regel die 70 überschritten haben, mindestens an zwei Erkrankungen leiden und gute Aussichten darauf haben, dass die Reha ihm auch hilft. Vor allem dabei, seine Selbstständigkeit zu bewahren oder wiederzuerlangen. Wie weit sie gehen soll, das wird mit jedem neu angekommenen Patienten zu Beginn vereinbart: Viele Patienten wollen weiterhin zu Hause wohnen und sich allein versorgen. Manchmal geht es auch nur darum, allein vom Rollstuhl ins Bett steigen zu können. Doch beides können ehrgeizige Ziele sein und für beide ist Arbeit an vielen Baustellen gleichzeitig nötig: Es gibt eine sogenannte Grunderkrankung, sie ist aber meist nur das größte Problem unter einer ganzen Reihe an Erkrankungen.

So wie bei Wolfgang Weber, dem der blaue Gummiball immer wieder entwischt. Der 81-Jährige ist gerade etwas weiß im Gesicht geworden. Schuld ist sein Diabetes. Mit einem Glas Fruchtsaft schreitet eine Schwester gegen die drohende Unterzuckerung ein. Weber trägt einen gepflegten grauen Seitenscheitel, einen Pullunder über dem Hemd. Im Juli war er in den Bus gestiegen und war dort plötzlich zusammengebrochen. Als er wenig später im Krankenhaus wieder zu sich kam, konnte er sich nicht mehr erinnern, was geschehen war. Nur den Fahrschein hielt er noch in der Hand. Durch den Sturz hatte er sich ein schweres Schädelhirntrauma zugezogen. Außerdem wurde eine globale Hirnatrophie, eine Veränderung der Hirnstruktur festgestellt, die ähnliche Anzeichen hervorrufen kann wie ein Schlaganfall. „Ich merke, dass ich nicht mehr der Alte bin“, sagt Weber und meint damit auch seine Probleme mit der Artikulation.

„Das Gehirn sendet keine verwertbaren Signale mehr“, beschreibt Ulrike Burg, Logopädin im Sankt-Gertrauden-Krankenhaus, den Grund dafür. Damit es wieder damit anfängt, müssten die zerstörten Strukturen umgangen werden. „Das ist möglich, aber es ist ein mühsamer Prozess, weil man das Gehirn dazu fordern muss.“ Weber und Burg sitzen sich gegenüber: „Kat-zen-pfo-te“, dabei betont die Logopädin jede Silbe. Weber wiederholt: Das „zen“ hört sich anfangs noch wie ein „schen“ an. „Lassen Sie die Zunge schnalzen“, ermuntert ihn Burg. Und es funktioniert: Je stärker sich Weber konzentriert, desto deutlicher wird seine Aussprache.

Die Übungen müssen hunderte Mal wiederholt werden, damit sie eines Tages verinnerlicht werden. Mit einem Übungsblatt soll Weber auch zu Hause üben können, denn die halbe Stunde dreimal in der Woche reicht nicht aus. Alle Einheiten in der geriatrischen Reha sind auf eine halbe Stunde getaktet. Stress entsteht dennoch nicht: „Man muss sich auf das Tempo der alten Menschen einlassen“, sagt Burg.

Theodor Ostrop kommt drei Mal in der Woche aus Potsdam hierher. Auf eine stationäre Reha hatte er nach viel Krankenhauserfahrung keine Lust mehr. Ostrop fährt selbst, er hat ein Automatikfahrzeug, das er auch mit der Prothese am linken Bein fahren kann. Der 73-Jährige arbeitete für einen großen Konzern im Personalbereich. Nach seiner Berentung machte er eine Ausbildung zum Gästeführer, zeigte kleinen Reisegruppen Berlin und Paris. Dann wurde er Führer für das Schloss Sanssouci in Potsdam und lernte mit „lauter jungen Leuten“ Spanisch in Salamanca. „Die Vokabeln bleiben ab einem gewissen Alter nicht mehr so schnell haften“, sagt Ostrop. „Aber man bleibt geistig wach.“

Dann wurde das Sarkom, ein bösartiger Tumor, in seinem linken Knie gefunden. Es folgte die Amputation des Unterschenkels. Der Krebs hatte bereits in seinem Körper gestreut, eine Chemotherapie war unumgänglich. Sie brachte aber nicht den Erfolg, den sich Ostrop erhofft hatte. Jetzt sitzt er in warmes Mittagslicht getaucht im Aufenthaltsraum. „Optimismus und Glaube sind wichtig. Nicht nur Chemie“, sagt Ostrop. Sein Ziel ist es, mit der neuen Prothese ohne Gehhilfen laufen zu lernen. Das kostet Kraft, aber es ist ein Ziel, das das Leben lebenswert macht. In der Reha hat er neuen Mut gefasst.

Auch bei einem ehrgeizigen Zeitplan dürften die Bedürfnisse der Patienten nicht zu kurz kommen, sagt Chefärztin Martina de la Chevallerie. Deshalb wurde zum Beispiel ein Ruheraum eingerichtet: „Jemand, der 30 Jahre lang Mittagsschlaf gemacht hat, wird bei uns nichts leisten können, wenn er den plötzlich nicht mehr bekommt.“ Und auch das Essen sei wichtig. In der Grundversorgung enthalten ist ein Snack, gegen zwei Euro Aufpreis gibt es ein ganzes Menü. Für viele Patienten sei das unbedingt notwendig, sagt de la Chevallerie. „Man glaubt nicht, wie viele ältere Menschen es in Berlin gibt, die Mangelerscheinungen durch Unterernährung haben.“ Durst- und Hungergefühl kämen im Alter oft abhanden. Damit die Ernährung auch nach den durchschnittlich 19 Tagen ambulanter Reha sichergestellt ist, schließt sich das Behandlungsteam mit Angehörigen und Pflegediensten kurz.

„Vom Tag der Aufnahme an planen wir die Entlassung“, beschreibt Hans-Joachim Möller diese geriatrische Weitsicht, die über die Akutmedizin hinausgeht. Möller ist Chefarzt der evangelischen Rehabilitationsklinik für Geriatrie in Lehnin in Brandenburg. Der größte Teil seiner Patienten bleibt auch über Nacht hier. „Manche Patienten kommen direkt aus der Intensivstation zu uns“, sagt Möller. Am häufigsten nach Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Frakturen. „Hier haben wir die Chance, die Patienten zurück ins Leben zu führen.“ Im Schnitt 21 Tage geben die Kassen ihm und seinem Team dazu Zeit. „Etwa 15 Prozent der Rehabilitanden müssen danach in ein Pflegeheim, aber drei Viertel der Rehagäste gehen wieder nach Hause.“ Darauf sei man schon ein wenig stolz, sagt Möller.

Der Weg zurück ins Leben beginnt mit einem geriatrischen „Assessment“: Das Team aus Fachärzten, Therapeuten, Sozialarbeiterinnen und Pflegenden geht dazu den Fragen nach: Wo steht der Patient, was muss er im Alltag allein können und welche Potenziale sind vorhanden? Die Art, wie in der Geriatrie eine Antwort darauf gefunden wird, ist in der streng nach Fachdisziplinen aufgeteilten Medizin eine Ausnahme: „Man ist dabei auf die Zusammenarbeit mit den anderen Berufsgruppen angewiesen“, sagt Chefarzt Möller. „Das ist, als würden wir ein Puzzle zusammensetzen“. Im nächsten Schritt werden Therapiepläne entworfen und dann muss der Patient ran: Fördern und fordern, lautet das Motto in der Rehaklinik Lehnin. „Hilfe gibt es nur dort, wo der Patient sie wirklich braucht“, sagt Möller. „Wir wollen vor allem vorhandene Fähigkeiten fördern und ausbauen.“

Weil das anstrengend ist, kommt es vor, dass Patienten mit den Anforderungen der Reha nicht klarkommen. Dann gibt es auch die Möglichkeit, zu unterbrechen oder zu beenden. „Wenn sich zum Beispiel herausstellt, dass ein Tumorleiden schwerer ist als gedacht, dann muss das oberste Ziel die Verbesserung der Schmerztherapie sein, nicht die Selbstständigkeit.“ Dazu können Patienten in Lehnin innerhalb der Klinik von der geriatrischen Reha in die Palliativstation wechseln. Dort geht es nicht mehr um die Heilung der Erkrankung, sondern um die bestmögliche Bekämpfung ihrer Symptome.

Zurück nach Wilmersdorf: Heute Morgen ist Theodor Ostrop im Sankt-Gertrauden-Krankenhaus zum ersten Mal ohne Gehhilfen gelaufen. Zum Beweis übergibt er sie dem Therapeuten und setzt etwas schwankend und vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Es geht erst mal nur bis zum Aufzug. Aber für Ostrop ist klar: „Noch ein paar Meter weiter und ich werde wieder Stadtführungen geben.“

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GERIATRIE/GEHÖR



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