zum Hauptinhalt

Berlin: Ottos Lächeln

In Berlin bekommt ein Kindersoldat aus Uganda ein neues Gesicht, denn eine Kugel hatte es zerstört. Monatelang wird er immer wieder operiert – Chronologie einer Genesung

Wenn Otto Morris heute lächelt, ist es das erste Lächeln seit drei Jahren. Sie haben am Freitag ein Stück Sehne aus dem Oberschenkel entnommen und damit den Kaumuskel an seine Lippen angeschlossen. Sie haben aus einem Kaumuskel einen Lachmuskel gemacht und ihm so sein Lachen wiedergegeben.

Ende Oktober 2005 war in Kenia eine Maschine nach Berlin gestartet. An Bord ein 16-jähriger Junge ohne Nase. Man weiß nur wenig über diesen Jungen, der aus dem Norden Ugandas stammt und die letzten drei Jahre in einem SOS-Kinderdorf in Nairobi verbracht hat. Otto kommt als Patient, der in Deutschland ein neues Gesicht erhalten soll. Es wirkt wie verrutscht, als habe eine große Faust ihm die Nase ins Gesicht hineingetrieben und nur noch die Löcher übrig gelassen. Er hat einen Rucksack dabei, dessen Inhalt nicht für den Berliner Winter taugt. Er trägt eine Strickjacke. Otto hat ein Touristenvisum über drei Monate, den Flug bezahlt SOS. Nach drei Monaten, so schätzt man damals noch, ist alles verheilt und Otto wieder reisefertig.

Ottos Geschichte hat begonnen wie die Tausender Kriegskinder. Sie wird enden wie keine andere.

Sein Großvater hatte ihm den Namen Otto gegeben. In Acholi, seinem Stammesdialekt, bedeutet Otto „Tod“. Als Otto elf Jahre alt ist, überfallen Rebellen der Lord’s Resistance Army (LRA) sein Dorf. Seit bald 20 Jahren wüten sie im Norden Ugandas, und jeder weiß, was mit denen geschieht, die sie kidnappen. Sie werden zu unvorstellbaren Grausamkeiten gezwungen. Die LRA entführt hauptsächlich Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, denn Kinder widersprechen nicht und brauchen wenig zu essen, und richtet sie dazu ab, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Mehr als 25 000 Kindersoldaten sollen in zwei Jahrzehnten verheizt worden sein. Wer überhaupt je zurückkommt, ist nicht mehr derselbe Mensch.

Drei Jahre lang zieht Otto mit seinen Entführern umher. Sie überfallen weitere Dörfer. Aber irgendwann gibt es eine Schießerei mit der Polizei. Ein Junge stirbt. Eine Kugel trifft Otto hinter dem linken Ohr und tritt durch die Nase wieder aus. Es gibt jetzt keine Nase mehr. Auf ihrem Weg durch den Kopf zerstört die Kugel Teile des Gehörs und des großen Gesichtsnervs. Blut steigt in die Augen, Otto kann einen Mundwinkel nicht mehr heben, aber Lächeln ist das Letzte, woran er jetzt denkt.

Und doch muss diese Verletzung als ein Glück angesehen werden. Denn sie ist so schwer, dass die Rebellen ihn nicht mehr gebrauchen können. Otto wird gefunden und in ein Krankenhaus gebracht. Die Hilfsorganisation World Vision wird aufmerksam auf ihn. Er kommt in ein SOS-Kinderdorf in Nairobi. Er fühlt sich entstellt. Und zieht sich zurück.

„Menschenwürde hat auch etwas mit Schönheit zu tun“, sagt der Chirurg Frank Peter in Berlin. Peter, 49 Jahre alt, ist eigentlich Schönheitschirurg. Aus dem Fenster seines Büros in einer Privatklinik sieht er über den Wittenbergplatz auf das KaDeWe. Er weiß, dass seine Kunst eigentlich den Privilegierten vorbehalten ist. Frank Peter wollte das ändern und hat im Dezember 2001 „Placet“ gegründet, eine Organisation, die entstellten Kriegs- und Terroropfern hilft. Er nutzt Elemente aus der Schönheitschirurgie bei der Wiederherstellung der Gesichter, und die dort erprobten Techniken kommen anschließend wieder seinen Schönheitsoperationen zugute. Er sagt: „Das Spannungsfeld zwischen Luxus und Elend ist reizvoll.“ Und beinahe schwärmerisch, dass es sich um Verletzungen handele, die man in Deutschland kaum noch sehe. „Zerschossene Gesichter...“ Seit der Gründung hatte Peter zehn Fälle auf dem OP-Tisch.

Es sind Fälle, die der Arzt vorher nur von Fotos und Beschreibungen kennt, das Ausmaß der Verletzungen begreift er oft erst, wenn die Patienten vor ihm sitzen. Frank Peter, der es nicht gewohnt war, in schwarze Gesichter zu schauen, hat eine Weile nicht gesehen, dass Ottos Gesicht zur Hälfte unbeweglich ist, wegen eines zerstörten Gesichtsmuskels. Da war klar: Otto würde länger bleiben müssen, er braucht mehr Operationen als geplant, das Ganze dauert mindestens ein halbes Jahr. Die Visumsfrage ist noch nicht geklärt, obwohl Placet alle anfallenden Kosten übernehmen will.

Ein halbes Jahr vor Ottos Ankunft hatte Frank Peter eine ganze Akte aus Uganda bekommen mit Fotos von Entstellten, mit ihren Geschichten. 60 Fälle wurde ihm „angeboten“, acht kamen in die engere Wahl, und die fiel auf Otto. Die Kriterien: Es muss eine schwere Entstellung sein, aber sie muss zugleich in einigen Monaten korrigierbar sein. „Bei einer einzigen Operation werden mehrere Dinge zugleich gemacht, und die Heilzeiten sind an der unteren Grenze berechnet.“

Es kommt dabei nicht darauf an, das Gesicht „schön“ zu machen. Menschen, denen mit körperlicher Gewalt ihre Identität weggeblasen wurde, wollen sich selbst zurück, das Eigene. Schön ist, wie es einmal war, so krumm und schief es auch gewesen sein mag. Wie aber erfährt der Chirurg davon, was das Alte ist? Aus Kriegen bringt man keine Fotos mit, und Kinder, die keine Eltern mehr haben und ihre Geschichte nicht mehr zusammenkriegen, laufen nicht mit einem Album durch die Gegend. Peter wird sich Mühe geben.

Als Otto im SOS-Kinderdorf in Berlin-Moabit eintraf, war er verschüchtert und zurückgezogen. Er wählte das Zimmer unter dem Dach mit dem blauen Bettzeug, und seine Tür war fast immer zu. Er sagte Ja oder Nein, wenn sie ihm etwas zu trinken anboten, aber von sich aus fragte er nie. Er malte viel, obwohl er dafür eigentlich zu alt war, und auf den Bildern waren Teddys und Männer mit Gewehren. „Er holt seine Kindheit nach“, sagten die Betreuer. Er hatte nichts von der Welt gesehen und zugleich zu viel. Er hörte Hip-Hop, und ob er selbst getötet hat, weiß keiner. Er sagt, er sollte nur helfen. Posten sichern und Gewehre tragen.

Zwei Monate später ist die Langeweile das größte Problem geworden. Im Vergleich zu allem, was in seinem Leben passiert ist, war der erste Schnee keine große Sensation mehr. Otto sitzt in der Praxis am Wittenbergplatz und sieht in den weiten Jeans und den weißen Turnschuhen aus wie ein Teenager aus Berlin. Er guckt ohne Scheu, er hat ferngesehen und bewegt sich lässig wie seine Vorbilder, die Rapper. Nötiger als eine Traumabehandlung, finden seine Betreuer, bräuchte er jetzt Normalität. Aber die anderen Kinder in seiner SOS-Familie sind alle viel jünger als er. Otto spricht nur einige Worte Deutsch, kaum Englisch, und Britta Neumann, eine Afrikanistin, die sich mit ihm auf Kisuaheli verständigen kann und jetzt übersetzt, hat nur sechs Stunden in der Woche bewilligt bekommen. Er bräuchte jemanden, der mit ihm etwas Schönes unternimmt, sagt sie. Bei einem Krankenhausaufenthalt lag im Nebenbett ein polnischer Junge. Mit dessen Familie ist er einmal Bowlen gewesen.

Und wenn er doch geschossen hätte? Wenn es so wäre? Es spielt keine Rolle hier, sie sollen nicht entscheiden, ob jemand Täter oder Opfer ist oder als Opfer zum Täter gezwungen wurde. Sie können nur vom Status quo ausgehen, und der ist desaströs.

Bei der ersten Operation im Dezember haben sie Ottos Hautqualität geprüft und ob es noch mehr Verletzungen gibt, die von außen nicht sichtbar waren. Dann haben sie ein Nasenloch erweitert, um das Atmen zu erleichtern. Mit der Sehne aus dem Oberschenkel kam das Lachen zurück. Der größte Eingriff wird jedoch die Wiederherstellung der Nase am 7. April. Sie werden Knochen aus der Rippe entnehmen und aus diesen Knochen ein Nasengerüst bauen. Die Haut, die auf dem Gerüst aufliegen soll, klappen sie von der Stirn herunter. Damit es da aber so viel Gewebe gibt, dass es für eine ganze neue Nase reicht, wurde Otto schon vor einigen Wochen ein Expander aus Silikon in der Stirn eingepflanzt, eine Art Kissen, das in mehreren Sitzungen langsam per Spritze mit Wasser aufgefüllt wird und sich entsprechend ausdehnt. Auf Ottos Stirn wächst nun eine große Beule. Weil die Haut lebendig ist und durchblutet, macht es auch nichts, wenn der Junge noch wächst: Das Gewebe wächst mit.

Britta Neumann übersetzt Otto alles, was mit ihm passieren wird. Sie erklärt ihm auch, dass er Schmerzen haben wird. Und dass am Ende auf der Stirn nur eine senkrechte Narbe bleibt.

Es gibt mehrere Organisationen, die verletzte Kinder aus aller Welt nach Deutschland holen. Mehr über Placet erfährt man im Internet unter www.placet-berlin.de. Das SOS-Kinderdorf in Moabit lässt sich unter www.sos-kifaz-berlin.de besichtigen; Kontakt kann man per E-Mail aufnehmen: kd-berlin@sos-kinderdorf.de. Auch die Organisation Friedensdorf fliegt Kinder ein (www.friedensdorf.de). Interplast organisiert Operationen im Ausland (www.interplast-germany.de). Die Spendenadressen sind auf den Seiten leicht zu finden.

Zur Startseite