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Berlin: Plötzlich riss der Entführer das Kleinkind an sich

Nach 13 Stunden beendete die Polizei den Alptraum in Kleinmachnow. Sie fasste den Täter kurz nach der Lösegeldübergabe

Für die Eltern waren es dreizehneinhalb Stunden voll qualvoller Ungewissheit. In Kleinmachnow am südlichen Stadtrand hat die Polizei am späten Donnerstagabend die Entführung eines vierjährigen Mädchens unblutig beendet. Der Täter wurde in dem Ort gefasst. „Das Kind befindet sich seit etwa 21.30 Uhr wieder wohlbehalten bei den Eltern“, sagte Polizeisprecher Rudi Sonntag .

Zuvor war es in Fürstenwalde (Oder-Spree) zur Übergabe des vom Entführer geforderten Lösegelds gekommen. Es wurde von einer Brücke geworfen, der mutmaßliche Täter hat es aufgefangen und ist dann mit dem Auto über den Berliner Ring geflüchtet – ausgerechnet nach Kleinmachnow. Um 21.28 Uhr setzte der Mann das Kind in unmittelbarer Nähe des Elternhauses aus. Drei Minuten später griff die Polizei zu, Beamte stoppten den Wagen und nahmen den Mann fest. Es soll sich um einen deutschen Staatsbürger aus der Region handeln, erfuhr der Tagesspiegel aus Ermittlerkreisen.

Kurz vor acht Uhr, der Vater der Familie war gerade zur Arbeit gefahren. Die Mutter wollte ihr Kind in ihr Auto setzen, es auf dem Weg ins Büro zur Tagesmutter bringen. Da tauchte vor dem Einfamilienhaus ein maskierter Mann auf. Er trug einen Strumpf über dem Kopf, hielt der Frau einen Gegenstand an den Hals. Zunächst war von einer Sichel die Rede, so berichtet es eine Nachbarin. Der Mann entriss der Mutter das Kind und flüchtete in einem roten Renault Clio.

Die Polizei rückte mit einem Großaufgebot an und verhängte eine Nachrichtensperre. Über dem Ort kreiste den ganzen Tag über ein Hubschrauber, Sondereinsatzkommandos standen bereit, Zivilfahnder durchstreiften die Region. Als ersten Anhaltspunkt hatten die Ermittler nur das, was die Mutter berichtete und was der Täter hinterlassen hatte: Einen Zettel, „einen Wisch“, wie ein Polizist sagte. Darauf hatte der Täter eine Lösegeldforderung notiert und die Anweisung, weder Polizei noch die Presse einzuschalten. Und die Ermittler hatten ein Kennzeichen, das sich die Mutter gemerkt hat: ein tschechisches, das am Tag zuvor in Berlin gestohlen worden war. Der Wagen, von dem das Kennzeichen stammt, wurde in Berlin sofort auf DNA-Spuren und Fingerabdrücke untersucht.

Die Redaktionen aller Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehanstalten der Region wurden von der Polizei gebeten, zunächst nicht über den Fall zu berichten. Dem Mann sollte kein Grund gegeben werden, dem Kind, das er in seiner Gewalt hatte, noch mehr anzutun. Die vierjährige Karolina sollte wieder zu ihren Eltern zurückkehren können.

Den Ermittlern machte die merkwürdige Lösegeldforderung Sorgen: Nicht einmal 100 000 Euro betrug die Summe. Die Familie gilt nicht als sonderlich vermögend – deutsche Mittelschicht, Doppelverdiener, Eigenheim, Kinder, zwei Autos. Die Eltern sagten aus, sie wüssten nicht, wer in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld einen Grund hätte, ein Kind zu entführen.

Das Mädchen wird wie viele Kinder in Kleinmachnow noch von einer Tagesmutter betreut. Und die Tagesmütter sind vernetzt. Sehr gut sogar, sie haben einen Notfallplan für Entführungen. Der E-Mail- Nachrichtendienst funktionierte auch am Donnerstag. Schulen, Horte und Kitas gaben zudem die Devise aus: Kein Kind geht heute ohne Begleitung nach Hause - die Eltern sollten ihre Kinder persönlich abholen. Auch die Schüler wurden belehrt. Per Telefon wurden die Eltern informiert. Details erfuhren sie nicht. In Kindergärten wurde nur drinnen gespielt. Viele Eltern holten ihre Kinder schon direkt nach dem Schulschluss ab.

Am nahen Supermarkt trafen sich am Nachmittag viele Eltern mit Kindern. Alle kannten sie nur ein Gerücht: Ein Kind sei aus einem Kindergarten entführt worden. Am Abend saßen die Gemeindevertreter zusammen. Ein Bürger fragte, was los sei, warum die vielen Polizeiwagen, die vielen Beamten, der Hubschrauber im Ort zu sehen seien. Bürgermeister Michael Gruber (SPD) sagte nur, es habe einen „Vorfall“ gegeben, die Polizei aber eine Nachrichtensperre verhängt. Mit den Ermittlern wurde die Sprachregelung verabredet, dass an dem Gerücht, es habe einen Vorfall in einer Kita oder einer Schule gegeben, nichts dran sei.

Am orangefarbene Haus der Familie K. waren den ganzen Tag über die dunkelroten Gardinen zugezogen. Blicke sollten draußen bleiben. Die Eltern wurden von der Polizei und Psychologen in dem Haus betreut. Kriminaltechniker nahmen DNA-Proben und Geruchsträger, damit die Suchhunde die Spur des Kindern aufnehmen konnten. In der Straße leben viele junge Familien mit Kindern. Etliche Ein-, Doppel- und Reihenhäuser sind hier entstanden. Hinter dem Haus der Familie K. wird gebaut. Das Fundament des neuen Hauses ist fast fertig.

Beim Kinderabholen gab es am Abend nur ein nur Gesprächsthema. „Wir sollen nie alleine nach Hause gehen, immer mit einem Freund“, erklärte ein kleiner Junge seiner Mutter, als sie aus dem Haus kommen. „Na, jetzt holt dich Mama immer ab“, antwortete sie und ging mit ihm an den niedrigen Zäunen der Siedlung entlang. In den Gärten liegt Spielzeug, stehen kleine Rutschen aus Plastik oder Schaukeln aus Holz und nicht selten auch Buddelkästen. An vielen Gartenzäunen hängen Protestplakate gegen Fluglärm. Auf einem steht: „Schützt unsere Kinder vor den Flugrouten.“

Seit Donnerstag hat Kleinmachnow ganz andere Sorgen.

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