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Berlin: Pöbel, Suff und frische Brötchen

Das hier, sagt der Pfarrer, sei Berlin ganz unten. Ein Besuch zum 130. Geburtstag der Stadtmission

Morgens um sieben ist die Welt nicht in Ordnung. Die wohnungslosen Schlafgäste in der Notunterkunft der Stadtmission rappeln sich widerwillig von ihren Pritschen hoch. Und viele liegen im Aufenthaltsraum noch schlafend am Boden, als Pfarrer Hans-Georg Filker zur Morgenandacht ruft. Es riecht nach ungewaschenen Menschen, Kaffee und Zigaretten.

Filker wünscht frohgemut „Guten Morgen“. Als Antwort ruft einer: „Schaff’ mal die ganzen Polacken raus!“

Der Stadtmissionsdirektor ist das gewohnt und macht einfach weiter. „Was ist Ihre Stärke?“, fragt er die Männer mit den Schnapsnasen und verfilzten Haaren. „Saufen!“, ruft einer. Die Freude am Herrn sei jedermanns Stärke, predigt Filker. Ein paar Männer prusten los. Und als er zum Mitbeten auffordert, murrt einer: „Alter, ich will jetzt frühstücken“. Der Text des Segensliedes, das jeden Morgen zur Gitarre gesungen wird, steht groß an der Wand. Die meisten gucken lieber stumm vor sich hin, die Kaffeetassen fest umklammert. Dann greifen viele Hände nach den geschmierten Broten, die die Helfer der Stadtmission in den Bankreihen austeilen. Hans-Georg Filker steht mit dem Kaffeepott in der Hand herum. Ein paar Männer sprechen ihn an. Das hier sei Berlin ganz unten, meint er später. Und dass er die Obdachlosen mit den zehn Minuten Andacht nicht nerven wolle. „Aber die haben auch ein Bedürfnis, mal anders angesprochen zu werden. Und wir wollen ihnen zeigen, dass sie was wert sind.“

In Frostnächten kommen bis zu 140 Menschen in der Notübernachtung Lehrter Straße unter. Abgewiesen wird keiner. 60 Plätze bezahlt das Bezirksamt Mitte, den Kältebus unterstützt der Bezirk Neukölln. Für alles weitere müssen Spenden herhalten. Das Zentrum am Hauptbahnhof beherbergt außerdem eine Krankenstation und ein Übergangshaus für Obdachlose, die wieder in eigene vier Wände wollen. Außerdem ein Projekt zur Wiedereingliederung von Knackis aus der JVA Tegel, zwei Gästehäuser, wo die Obdachlosen und Straffälligen auch arbeiten können, und vieles mehr.

„Ich leite einen mittelständischen Konzern mit 600 Mitarbeitern und 1000 ehrenamtlichen Helfern“, sagt Filker. Und morgen um 15 Uhr feiert dieser christliche Konzern seinen 130. Geburtstag mit einem Festgottesdienst im Berliner Dom. Viel hat sich seit den Anfangstagen der Stadtmission nicht geändert im kirchenfernen Berlin. Die ersten Stadtmissionare hätten versucht in einer Stadt im Aufbruch kirchliches und soziales Leben mitzugestalten. Und dasselbe versuchten sie jetzt nach wie vor in der immer mehr sozialen Kitt verlierenden Hauptstadt. Nicht ganz erfolglos, wenn man sich die illustre Gästeliste – Kanzlerin, Botschafter, Staatsminister – ansieht, die die Stadtmission besuchen. Die Lehrter Straße habe Modellcharakter, sagt Filker. „Wir sind keine Suppenküche, kein Hotel, keine Kirchengemeinde – aber erfüllen diese Funktionen.“

Um halb sieben gibt’s das zweite Frühstück. Im Jugendgästehaus, über der Oberdachlosennotübernachtung, wartet ein Büfett mit geschnitzten Melonen, Desserts in langstieligen Gläsern und Kräuterrührei im dampfendem Rechaud. Weißes Leinen deckt den Tisch und die zehn Damen und Herren, die sich kultiviert begrüßen, tragen feinen Zwirn. Das ist die „Frühschicht“ – eine Art spirituelle Morgenlage für Manager, Bänker und Entscheider aus dem Auswärtigen Amt oder dem Wirtschaftsministerium. Filker hört ihnen lange zu, als über Fürsorge für die Seele in der Fastenzeit geplaudert wird. Dann spricht er hier und da einige Sätze und sorgt unauffällig für Wir-Gefühl.

Was die Stadtmission mit der „Frühschicht“ bezweckt? Ihm habe kürzlich ein Manager erzählt, sagt Filker, dass dies der einzige Kreis sei, wo er hinkommen könne, ohne nach seiner Nützlichkeit bewertet zu werden. Auch eine Aufgabe für die Stadtmission.

Spendenkonto und Kontakt unter:

www.stadtmission-berlin.de

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