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Klinik-Skandal: Gutachten mit fatalen Folgen

Nach dem Mord an einer Patientin in der Wenckebach-Klinik wächst der Zweifel an psychiatrischen Einschätzungen. Die mutmaßliche Totschlägerin ist von einem Richter für schuldunfähig erklärt worden.

Die Frau, die im Wenckebach-Krankenhaus eine andere Patientin erstickt haben soll, wurde gestern von einem Richter als schuldunfähig in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen – dem Ort, dem sie vor sechs Jahren entgangen war. Denn Angela L. (42) hat schon viele Schlagzeilen gemacht: Im März 1999 hatte sie an einem Strand im US-Bundesstaat Florida ein vierjähriges Mädchen unter Wasser gedrückt und mit einem Messer attackiert. Der amerikanischen Polizei erklärte die Frau ihre Tat so: Sie wolle auf dem elektrischen Stuhl sterben.

Im Januar 2002 wurde die Kreuzbergerin nach Deutschland abgeschoben, zwei Monate später begann der Prozess wegen versuchten Mordes. Das Urteil lautete: Unterbringung in der Psychiatrie – auf Bewährung. „Wir sind sicher, dass Frau L. keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellt“, begründete der Richter die Freilassung. Angela L . wurde nur auferlegt, regelmäßig nachzuweisen, dass sie auch weiterhin in Behandlung ist. Wegen eines „Krankheitsschubes“ hatte sie sich jetzt freiwillig in der Psychiatrie aufnehmen lassen. Dort soll sie in der Nacht zu Mittwoch eine schlafende 53-Jährige mit einem Kissen erstickt haben.

Angela L.’s Entwicklung zur mutmaßlichen Totschlägerin wirkt für Experten wie ein weiterer Beweis für die Problematik der Begutachtung psychisch oder seelisch kranker Menschen. Studien über die Zuverlässigkeit von forensischen Gutachten haben an den qualitativen Schwächen vieler Gutachter nichts ändern können. Immer wieder kommt es zu schwersten Verbrechen aufgrund falscher Gutachten. Besonderes Aufsehen erregte 2005 der „Fall Carolin“. Damals wurde eine 16 Jahre alte Schülerin von einem Triebtäter vergewaltigt und ermordet, der gerade eine Woche zuvor aus der Haft entlassen worden war – nach ausgiebiger psychiatrischer Begutachtung. Der Mann, der jahrelang wegen eines Sexualverbrechens in Haft gewesen war, galt als „geheilt“. Nach dem Mord an Carolin war von einem „Fiasko“ für Gutachter die Rede.

Nach Ansicht von Fachleuten gibt es in Deutschland nur etwa zehn psychiatrische Forensiker, die auf dem neuesten Stand der Forschung und entsprechend verlässlich sind. Der Anwalt Rolf Bossi stellte einmal die These auf, zehn Prozent der Gerichtsgutachten über Sexualstraftäter seien falsch. Weil sich so viele Gutachter offenbar leicht täuschen lassen, kommt es immer wieder zu Justizskandalen: Mörder und Triebtäter werden in der Haft begutachtet, kommen in den offenen Vollzug – und begehen abermals schwere Straftaten. Aber auch den umgekehrten Fall gibt es: Am Mittwoch wurde ein Mordprozess neu aufgerollt, in dem eine Frau auf Grund von Gutachten zu lebenslänglich verurteilt wurde. Nun fordert die Staatsanwaltschaft Freispruch, das damalige Gutachten wurde massiv kritisiert.

Angela L. hatte in ihrem Abschiedsbrief vor der Reise nach Florida diesen Satz hinterlassen: „Alle Ärzte und Medikamente können das nicht heilen, was mit mir passiert ist.“

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