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Praxisführer - Folge 5: Vom Wert des Brotes

Wie viel Kohlenhydrate enthält ein Schokokuss, wie viel Schlagsahne und wie viel ein Apfel? Diabetiker lernen, wie viel Zucker ihr Körper aus jedem Bissen gewinnt – ein Training, das mit den Jahren selbstverständlich wird.

Im Schulungsraum steht ein Teller mit Schokoküssen. Ja auch so was dürfen Zuckerkranke essen, ab und zu jedenfalls, und mit der richtigen Menge Insulin im Blut. Doch dafür müssen sie zählen lernen. Eine Schiebetafel hängt an der Wand, damit kann man Broteinheiten (BE) berechnen, also den Gehalt an Kohlenhydraten, die im Körper zu Zucker werden. Ein Schokokuss entspricht einer BE, also zehn bis zwölf Gramm Kohlenhydrate.

Hier im Schulungsraum in der Schwerpunktpraxis von Thomas Scholz in Tegel trainieren Diabetiker, wie man richtig isst und sich mit Insulin versorgt. Broteinheiten, sie sind das Maß des Diabetikerlebens. Mit ihnen wird berechnet, wie viel des lebenswichtigen Hormons Insulin der Zuckerkranke im Laufe des Tages spritzen muss.

Der Stoff wird in der Bauchspeicheldrüse produziert. Das Hormon sorgt dafür, dass Körperzellen den nach der Verdauung im Blut gelösten Zucker aufnehmen und daraus Energie gewinnen. Bei den sogenannten Typ-1-Diabetikern stellt die Bauchspeicheldrüse kein oder nicht ausreichend Insulin her. Das Immunsystem attackiert aus bislang unbekannten Gründen die insulinproduzierenden Zellen, zerstört sie schließlich.

So wie bei Karin Wolters*. Die 55-jährige Berlinerin sitzt allein im Schulungsraum, wartet, bis die achtköpfige Gruppe vollständig ist. Ihre roten Haare sind kurz, auf der Nase hat sie Sommersprossen, darüber Augenbrauen, die auch bei entspanntem Gesicht leicht hochgezogen wirken. Blaue Jeans, grüne Bluse und modische Brille mit schmalem Plastikgestell zeigen: Sie legt Wert auf gutes, ein wenig jugendlicheres Aussehen.

Bei Karin Wolters wurde „der Zucker“ spät festgestellt. Es war die Brille, die sie schließlich auf die Spur brachte. „Meine Augen wurden immer schneller immer schlechter.“ Karin wolters brauchte in immer kürzeren Abständen eine neue Brille – die letzte kostete 1000 Euro. Die kaufte sie sich, kurz bevor die Krankheit vor zwei Jahren entdeckt wurde.

„Ich habe vorher geträumt, ich werde krank“, sagt die zierliche Frau. Aber zum Facharzt wollte sie nicht, wählte erst den Allgemeinarzt. Der brauchte für die Diagnose eine Weile, jedenfalls bevor Karin Wolters ihn auf die richtige Idee brachte.

Im Internet hatte sie zuvor die typischen Symptome eines Diabetes recherchiert – und stieß auch auf das Problem mit der Sehschärfe. Denn das ist eine der Folgen des Typ-1-Diabetes: Der Zucker, der durch das fehlende Insulin nicht mehr zur Energiegewinnung aus dem Blut herausgeholt werden kann, geht zwar zum größten Teil über den Urin wieder hinaus – daher der Name Diabetes mellitus, das ist griechisch und bedeutet „honigsüßer Durchfluss“. Die hohe Zuckerkonzentration entzieht dem Körper mit dem Harn aber viel Wasser. Er trocknet aus, auch der Augapfel, der schrumpft. Damit verändern sich die Brechkraft der Augen und Brillenstärke.

Erst als die Krankheit erkannt war und Karin wolters sich Insulin spritzte, besserte sich ihr Sehvermögen. Die teure Brille brauchte sie nicht mehr.

Dafür musste sie neu essen lernen. Denn der Schock über die Diagnose saß tief. „Ich bekam Angst vor dem Essen, nahm ungewollt ab.“ Innerhalb eines halben Jahres verlor sie 20 Kilogramm.

Nun wusste sie, dass sie einen Fachmann, einen Diabetologen, brauchte: „Zu Hause ist man 24 Stunden mit der Krankheit allein.“

„Diabetes mit Herz“ – dieses „mit Herz“, das hat Karin Wolters angesprochen. Eigentlich ist der Name nur der Hinweis darauf, dass der Diabetologe Thomas Scholz auch kardiologisch tätig ist, also sich auch um begleitende Herzerkrankungen kümmert. Aber dieses Wort war der Grund, dass Karin Wolters aus Weißensee nun die zwei Stunden Fahrtzeit nach Tegel nicht scheut.

Scholz’ Praxis nimmt zwei Etagen in einem Einfamilienhaus ein. Auf 280 Quadratmetern arbeiten zwei Diabetologen, eine Gefäßmedizinerin, eine Allgemeinärztin und sechs Arzthelferinnen, dazu noch Diabetes- und Ernährungsberaterinnen. Denn das richtige Essen und die genaue Kenntnis der Zusammensetzung der Nahrung ist lebenswichtig.

Angst davor ist falsch. „Herr Scholz sagte: Essen Sie mehr Schlagsahne!“, erinnert sich Wolters und lächelt. Sie hat es geschafft, auch wenn es nicht leicht ist, mit Mitte 50 seine Lebensgewohnheiten umzukrempeln. „So bewusst, wie ich jetzt lebe, habe ich es vorher nie getan.“

Matthias Hanson* musste sein Leben nicht ändern. Es war schon sehr früh anders. Hanson ist ein typischer Vertreter des Typ-1-Diabetes, bei dem die Krankheit schon im Kindesalter auftrat. „Ich war noch keine zwei Jahre alt, als das bei mir diagnostiziert wurde.“ Das war vor 28 Jahren. Damals war alles anders.

Das Leben hatte sich der Krankheit anzupassen: Diätkurse, zwei Insulinspritzen zu festen Tageszeiten. „Das war in der Schule ziemlich hart: die anderen Kinder aßen Pommes mit Ketchup – und ich hatte eine Waage mit Schälchen dabei und wog Schwarzbrotscheiben ab.“ Und dann natürlich die Insulinspritzen, für ein kleines Kind eine echte Herausforderung. „Zum Anfang haben meine Eltern das Injizieren übernommen.“ In den Oberschenkel. Mit fünf Jahren übernahm Matthias Hanson das selbst. Zunächst mit fertig aufgezogenen Spritzen, später machte er das Insulinnachfüllen allein.

Inzwischen ist Hanson Rechtsanwalt. Er trägt einen dunklen Anzug und eine schmale Krawatte – Arbeitskleidung, die nicht so recht zu dem jungenhaften Gesicht passen will. Hanson geht seit vielen Jahren in die Diabetologische Praxis von Sohrab Fahimi in Kreuzberg.

Am Gürtel ist seine Insulinpumpe sichtbar. Das zigarettenschachtelgroße Gerät mit Steuerknöpfen und einer Digitalanzeige ist ein Wunderwerk der Technik: Die Pumpe führt dem Körper über eine Kanüle in der Bauchdecke kontinuierlich Insulin zu. Die Menge kann den individuellen Bedürfnissen des Patienten entsprechend programmiert werden. Neue Modelle sind durch einen Sensor in der Lage, permanent den Zuckergehalt des Körpers zu messen, vor starkem Abfallen oder Ansteigen des Zuckers warnen.

Nicht alle Diabetiker kommen damit klar, denn der Umgang mit dem Gerät, die Programmierung des benötigten Insulins, das regelmäßige Auffüllen sind nur für gut geschulte und motivierte Patienten geeignet. Dann aber bieten sie als Ersatz für die Injektionen mehr Lebensqualität. „Die Therapie passt sich dem Leben an, nicht umgekehrt“, sagt Hanson.

Alle zwei, drei Tage muss der Jurist den Insulinvorrat auffüllen und die Injektionskanüle austauschen, damit sie nicht zu einer Infektionsquelle wird. Und alle acht Wochen werden die A6-Batterien erneuert. Die Pumpe ist sogar wasserfest. „Ich könnte damit auch duschen gehen“, sagt Hanson. „Das ist wie eine Armbanduhr, ich denke kaum darüber nach.“

Doch manchmal erinnert einen die Krankheit drastisch daran, dass sie gefährlich ist. Trotz des süßen Namens sollte man einen Diabetes nicht unterschätzen. Wird das Insulin zu hoch dosiert, droht eine Unterzuckerung, medizinisch Hypoglykämie, die bis ins Koma führen kann. Matthias Hanson kennt das: „Ich merke, dass da was kommt, wenn ich plötzlich unkonzentriert werde, Texte mehrfach lesen muss, bis ich den Inhalt kapiere oder ich alles doppelt sehe und schlapp bin.“ Dann muss schnell Zucker her, am besten Traubenzucker, denn der geht schnell ins Blut.

Das andere Extrem ist die Überzuckerung, wenn zu wenig Insulin im Blut ist, und der Körper so den Energielieferanten Zucker nicht verwerten kann. Das kann passieren, wenn die Pumpe mal versagt, die Batterie alle ist oder die Kanüle unbemerkt herausrutscht.

Die Krankheit vergessen ist also keine Option, auch wenn die Technik das Leben erleichtert. „Man muss seine Blutwerte kennen und mit seinem Lebensstil die Werte im Griff behalten“, sagt Hanson. Sport zum Beispiel beeinflusst „die Werte“ günstig. Hanson fährt Rad, spielt Tischtennis und Fußball. Und er weiß, dass Stress auf den Blutzucker durchschlagen kann.

Und er kennt das Maß des Diabetikerlebens, die Broteinheiten. „Ich kann gut schätzen“, sagt Hanson. „Hundert Gramm Gewicht hat der“, sagt er und deutet auf einen Apfel, der vor ihm auf dem Tisch liegt. „Eine gute Broteinheit.“

* Name geändert

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