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Berlin: Reinhold Mohr (Geb. 1943)

Dann muss er die Köpfe absägen. Kopflos ist nun gefragt

In dieser Küche fühlt er sich einfach wohl. Es ist zwar eng, was kein Wunder ist bei acht Leuten, aber das sind normale Kreuzberger Wohnverhältnisse. Es ist mehr das Lachen und die Herzlichkeit. Wie bei einer richtigen Familie. Noch besser aber findet er diese Bärbel, ihre blonden Haare und ihren herausfordernden Blick. Er muss immer wieder zu ihr rüberschauen.

Komm einfach zum Abendbrot, haben Bärbels Brüder gesagt, einer mehr oder weniger macht nichts aus. Die beiden hat er in seinem neuen Job kennengelernt. Es ist nichts Kompliziertes, ein Aushilfsposten bei einer Firma, die Lautsprecher herstellt. Das richtige Leben beginnt nach Feierabend. Dann steigen sie auf ihre Kreidler-Mopeds und düsen durch die Straßen von West-Berlin. Den Wind im Gesicht, die Haare gestriegelt wie Elvis Presley, dazu enge Jeans und schicke Hemden. Reinhold hat sich eine dieser teuren, schwarzen Lederjacken geleistet. Er macht was her.

Seine Mutter ließ ihn machen. Er war immer draußen, in den Ruinen oder beim Hund der benachbarten Gärtnerei. Wenn er Hunger hatte, rief er und seine Mutter ließ ihm Stullen an einer Strippe in den Hof. Der Vater blieb in Ost-Berlin, mit der Mauer riss der Kontakt. Der Volksschulabschluss und die Hilfsjobs genügten ihm, ein Karrierefeiler ist er nicht. Doch Bärbel ist anders. Sie hat Pläne und Vorstellungen. Und sie fasziniert ihn. So oft er kann, kommt er zum Essen oder holt sie von der Schule ab. Heimlich, denn sie ist erst 15, und ansonsten sind ihre Brüder immer dabei, wenn sie mit den Mopeds die Havelchaussee runter an den Wannsee oder sogar in den Harz fahren. Er vorne am Lenkrad, sie hinten drauf. Küsse gibt’s, wenn die Brüder weggucken.

Sie verloben sich, um zu zeigen, dass sie es ernst meinen und damit sie endlich alleine ins Kino dürfen. Doch Bärbel drängelt, eine eigene Wohnung wäre schön. Dazu müssen sie heiraten und an die Zukunft denken. Reinhold versteht, sucht und findet eine Stellenanzeige, die ihn elektrisiert. „Suchen künstlerisch begabten Mann“, steht da, sonst nichts. Tags darauf steht er in einer Werkstatt voller Frauen- und Männerkörper. Es sind Schaufensterfiguren, die hier gegossen, modelliert, repariert und angemalt werden. Es ist staubig und schmutzig, aber Reinhold fühlt sich wohl und das Geld stimmt auch. Er fängt sofort an.

Zehn Jahre später steht er vor der Entscheidung seines Lebens. Der Chef tritt ab, Reinhold kann den Laden übernehmen. Er will. Ist Feuer und Flamme. Das ist die Herausforderung, auf die er gewartet hat. Am liebsten zusammen mit Bärbel. 25 Jahre lang wird er hinten stehen und sich um die Figuren kümmern. Sie wird vorne mit den Kunden sprechen und alles andere regeln. Sie wachen zusammen auf, fahren zusammen in die Werkstatt, frühstücken dort, feiern dort ihre Geburtstage, führen ein Leben zu zweit. Aus dem Ich wird ein Wir.

Einmal muss Reinhold hunderte Spitzbusen in Rundbusen ummodellieren, die Mode hat sich verändert. Dann muss er den Figuren die Köpfe absägen, kopflos ist nun gefragt. Doch anstatt sie wegzuwerfen, malt Reinhold sie mit einem Airbrush an: die Augen, die Wimpern, den Mund, ganz fein und vorsichtig. Irgendwann kommen die Köpfe nämlich wieder rauf. Die Figuren stehen in Boutiquen und Kaufhäusern, auf Modemessen und in Quizshows und Filmstudios.

Wenn die Presse kommt, um Artikel über den „Puppendoktor“ zu schreiben, sagt er nicht viel. Es ist halt das, was er macht. Wenn sie zu den Mode-Eröffnungen mit ihren Figuren eingeladen werden, gehen sie nicht hin. Eine Welt, in der ein Hemd 100 Euro kostet, ist nicht ihre Welt. Mitarbeiter einstellen wollen sie auch nicht. Was sie haben, reicht. Für die Reisen nach Fuerteventura, die Wohnung, das Auto und die Rente. Als es soweit ist, sagt Reinhold: „Jetzt können wir selber bestimmen, was wir mit unserer Zeit machen.“ Er bastelt an seiner Eisenbahn, entdeckt den Computer, zusammen kümmern sie sich um Neffen und Nichten.

Acht Jahre währt diese Zeit, dann fällt er vom Stuhl, einfach so. Im Krankenhaus entdecken sie einen seltenen Tumor im Gehirn. Die Therapien lässt er über sich ergehen. Haare fallen aus, das Gedächtnis lässt nach, laufen wird schwieriger. „Gut, dass du immer da bist“, sagt er zu Bärbel. Es ist ein Auf und Ab, bis es heißt: „Herr Mohr, Sie sind austherapiert.“ Als er stirbt, steht Bärbel an seiner Seite, wie in den letzten 53 Jahren auch.

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