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Berlin: Reizvolles Spiel am Grenzbereich - Tim Raues Art neuer Küche bricht entschieden mit der Routine

Yorckstr. 83, Kreuzberg.

Yorckstr. 83, Kreuzberg. Nur Abendessen, sonntags sowie in der ersten Januarhälfte geschlossen. Tel. 7809 8800. Reservierung ratsam.Bernd Matthies

Wie die Küche des Jahres 2000 aussieht? In einem Monat wissen wir mehr, sofern die Computerchips der Profiherde sich bis dahin wieder erholt haben. Freilich ist nicht zu erwarten, dass die Köche den epochalen Jahreswechsel zum Anlass nehmen, plötzlich alles ganz anders zu machen. Halten wir uns also an jene, die auch früher so gekocht haben, dass sie als Pioniere moderner, an aktuellen Trends orientierter Kulinarik galten.

Dass nun hier die Rede von Tim Raue ist, wird nicht überraschen. Er war Berlins Geheimaufsteiger im "Rosenbaum", das er dennoch nicht retten konnte, er kochte die neuen "Kaiserstuben" in die Höhe, scheiterte nicht unbedingt überraschend an der erzkonservativen Küchenlinie des Ritz-Carlton - und hat nun als Direktor des Hotels Riehmers Hofgarten und Chef im Restaurant "E.T.A. Hoffmann" niemanden mehr, der ihm reinreden könnte. Wenn jetzt was schief geht, ist er selbst verantwortlich.

Doch was soll schon schief gehen. Es gibt, schätze ich einfach mal, in Berlin genügend Fresslustige, die nicht in erster Linie auf Nummer sicher gehen wollen, sondern Spaß am Risiko haben: Was wird der Kerl uns heute wieder Verrücktes vorsetzen? Faszinierend wird es auf jeden Fall sein, weil er immer ein wenig im Grenzbereich driftet, immer wie ein verwegener Rennfahrer deutlich erkennen lässt, dass man auch beim Kochen aus der Kurve fliegen kann. Aber dann geht es doch gut. Manchem wird das eine oder andere Gericht womöglich nicht zusagen - Schweinsfuß mit Hahnenkämmen? - aber die technische Ausführung ist stets optimal. In Garzeiten, Abschmecken, Würzung.

Zu Raues Hochgeschwindigkeitsküche gehören die Weine. Gut zwei Dutzend sind immer offen, durchweg Spitzenqualitäten, die manchmal nur in kleinen Mengen vorrätig sind und oft wechseln. Das macht es möglich, auf einen bestimmten Wein hin zu kochen und verblüffende Effekte zu erreichen. So schmeckte die Kombination eines sehr süßen Gänseconfits in Gelee mit einer samtenen Parmesan-Kartoffelterrine plus Speck anfangs recht disparat. Erst durch die Vermittlung des üppigen, kalifornischen Chardonnays von Au Bon Climat, den ich eigentlich wegen seiner prekären Holznote und einer gewissen Süß-Sauer-Tendenz nicht mag, entstand ein herrlich komplexer Dreiklang. Das setzt freilich voraus, dass man sich von der sehr kompetenten Marie-Anne Raue beraten lässt und nicht versucht, mit einer Flasche das ganze Menü zu begleiten. Dann könnten manche Geistesblitze der Küche verpuffen.

Vorurteile müssen also draußen bleiben. Gegen eine restsüße Mosel-Spätlese von Willy Schaefer beispielsweise, die das fritierte Kalbsbries mit Trüffeln und Weißkrautsalat sehr in Richtung Harmonie begleitete, oder gegen den ebenfalls nicht ganz trockenen Scharzhofberger von Egon Müller, der dem hinreißenden orientalischen Pot au Feu mit Paprikaravioli spannungsvollen Widerstand leistete. Ach: Er kam auch mit jenem Gericht aus, das auf der Karte lakonisch "Erbseneintopf mit Eisbein" heißt - aber keine Bauarbeiter-Nahrung ist, sondern eine schaumige, asiatisch geschärfte Suppe aus grünen Erbsen mit einer witzigen Eisbein-Erbspüree-Rolle. Auch die eher europäischen Kombinationen gelingen bestens. Fasanenbrust auf Sauerkraut-Kartoffelpüree und Trüffelsauce mit Leroys feinem Morey St. Denis, Seezungenfilets mit kandierten Zitronen und Kaviar plus Chassagne-Montrachet - ein hochgradig reizvolles Spiel, das sich beiläufig bis ins Dessert weiterspielen lässt, mit dem raren Selosse-Champagner zum Waldbeerengelee mit Eis aus Trockenaprikosen, mit der Auslese von Schloss Lieser zum Passionsfruchtparfait mit marinierten Clementinen. Wenn dann schließlich noch der Wagen mit den Torten (Nougat-Maracuja!) zum zweiten Dessert hereingeschoben wird, kommt nur noch Kaffee in Frage. Geht das immer so weiter? Nein: Das Kreditkarten-Limit setzt eine Grenze, denn sowas ist natürlich teuer; Hauptgerichte kosten um 48, Vorspeisen um 28, Desserts um 20 Mark.

Trotz meiner persönlichen Begeisterung würde ich mich nicht wundern, wenn diese Art neuer Küche strittig bliebe, weil sie zu entschieden mit der Routine bricht. Einige Einwände sind aber nahe liegend: Die Verwendung dekorativ fritierter Krusteleien - Möhrenstreifen, Lauch - ist zu inflationär, und auch die Blüten obendrauf, Raues Markenzeichen, dürften eine modische Zeiterscheinung bleiben. Das Licht im Restaurant ist leider so schummrig, dass selbst die bunteste Kreation wie ein Schwarz-Weiß-Foto aussieht, und der Service sucht Sicherheit in zeremoniellen Gesten. Die angestrebte genießerische Lockerheit ist noch nicht erreicht. Trotzdem: ist mein persönliches Fazit klar: Dies ist gegenwärtig das interessanteste und kulinarisch zukunftsträchtigste Berliner Restaurant.

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