zum Hauptinhalt

Berlin: Rendezvous mit Alma und Grete - Harte Schulbänke, Gänsefedern, Gespräche mit Kindern aus der Kaiserzeit

Vermutlich ist die Überraschung gut gelungen: "Lieber Papa", schrieb Alma Schulz am 13. Mai 1912 zum Geburtstag ihres Vaters auf eine Karte, "wir alle gratulieren Dir zu Deinem heutigen Wiegenfest recht herzlich.

Vermutlich ist die Überraschung gut gelungen: "Lieber Papa", schrieb Alma Schulz am 13. Mai 1912 zum Geburtstag ihres Vaters auf eine Karte, "wir alle gratulieren Dir zu Deinem heutigen Wiegenfest recht herzlich. Viele Grüße und Küsse von uns allen!" Das allein wäre ja nicht ungewöhnlich gewesen, doch als Heinrich Schulz aus der Exerzierstraße 3a in Wedding die Rückseite betrachtete, musste er gewiss schmunzeln. Da standen auf einem Foto fünfzehn Jungen und Mädchen aus seinem Hinterhof, aufgestellt in Reih und Glied, und blickten ihn erwartungsvoll an. Der Jüngste drei, die Älteste sechzehn Jahre alt. Jahre vergingen, die Karte steckte im Familienalbum und kam irgendwann in die Hände eines Trödlers, der sie dem Museum Kindheit und Jugend an der Wallstraße 32 in Mitte vermachte. Dort hängt sie an der Wand und überrascht durch ihr Format: Jedes Kind ist so groß wie in der Wirklichkeit. Die Leute vom Museum haben das Foto zum Riesenposter vergrößert - als Einladung zu einer Reise in die Vergangenheit.

Gewiss, dieses Museum hat auch Vitrinen wie andere Ausstellungsorte. Man hat es in der dritten Etage einer Gesamtschule untergebracht, einem langweiligen Plattenbau. Doch seine Mitarbeiter haben sich eine spannende Aufgaben gestellt. Sie wollen die Geschichte der Kindheit und Jugend in Berlin in den vergangenen 200 Jahren anschaulich erzählen. Zur Begrüßung allerdings führen sie ihre Gäste erst die üblichen Wege: Sie zeigen Wiegen hinter Glas, Schulbücher, Blechspielzeug, Poesiehefte und andere abgelegte Spuren der Kindheit.

Das ähnelt ein wenig der Einführung in einen historischen Roman. Doch nun beginnt die Erzählung in vier Hauptkapiteln, und jedes ist wie ein Geheimnis hinter Türen verschlossen. Nele Güntheroth und Rita Weber vom Museumsteam öffnen Raum "Nummer 1" und treten mit ihren Besuchern die erste Reise an. Es geht zurück ins Jahr 1912. Zu Almas Riesen-Postkarte.

Wer mag dieses Mädchen gewesen sein? Und welches Zuhause hatten die anderen vierzehn Kinder? Was spielten und sammelten sie, was erlebten sie in der Schule und in Freundschaften, wovon träumten sie? Zum Beispiel Grete, 15 Jahre alt, ein Mädchen, dem die "Jungs noch piepe" sind und dessen Lehrerin zur Schulentlassung ins Poesiealbum schrieb: "In seinem Leben nichts versäumen und seine Pflichten redlich tun, ist mehr als große Dinge träumen." Oder Willi, der Fahrer auf der Elektrischen werden will.

Jedes Kind auf dem Foto hat seine Geschichte und stellt sich auf einem DIN A 4-Blatt mit ein paar Sätzen vor. Es ist allerdings nichts historisch verbürgt, die Museumsleute haben sich alle Porträts selbst ausgedacht und vervielfältigt. Sie stellten sich vor, wie es gewesen sein könnte. Es gibt ja keine Überlieferungen aus der Exerzierstraße 3a.

"Wen hättet ihr gern als Freund?" fragt Rita Weber vom Museum. Finger schnellen hoch. Grete, Willi und die anderen sind begehrt. Die Generation 2000 im Gespräch mit Jungen und Mädchen der Kaiserzeit. Kurze Vorstellung, Austausch kleiner Geschichten und Biographien, dann wird Alltägliches verglichen. Würden die Kinder jetzt ihre Kleider wechseln, es wäre wie bei "Prinz und Bettelknabe": Sie könnten so leicht die Zeitalter tauschen wie Mark Twains Helden ihre Gesellschaftsschicht.

Aber soweit geht selbst das Museum nicht. Es führt seine Gäste stattdessen zum nächsten Geheimnis - ins wilhelminische Klassenzimmer mit Originalbänken. Wer hier Platz nimmt, spürt die Härte der Lehnen. Aufstehen! Grüßen! Setzen! Kinder drängeln sich in die Dreierbank. Wo konnte man Spickzettel verstecken? Und dann geraten sie ins Schwitzen, weil das Lehrheft für "tägliche Übungen gegen stundenlange Sitzarbeit" eine Menge Tipps gibt, wie Schüler in den Bänken turnen und zwischen Tischen schwingen können. Es ist 1910 erschienen.

Das ist erfreulicher als die täglichen Schreibübungen. Es sei denn, sie werden im "Scriptorium" ausprobiert. So heißt das Geheimnis "Nummer 3" im Museum. Eine Probierstube für historische Schreibgeräte. Ein Raum mit Wachstafeln, Gänsefedern, Schiefertafeln und einer Fülle von Federhalter. Also: Bitte die Stahlfeder ins Tintenfass tauchen und jetzt ein "A" in alter deutscher Schrift malen.

Nele Güntheroth führt die Gruppe ins Depot des Museums - das vierte Geheimnis - und schließt einen Schrank auf, der bis unter die Decke reicht. Sie zieht gestapelte Schulhefte heraus. Viele aus der Nazizeit sind mit Sorgfalt beschriftet und marineblau. Keine Mickey Mouse lacht auf den Umschlägen, kein Benjamin Blümchen oder Bravo-Star. Auch Ernst Thälmann, der Führer der KPD, wäre als Schüleridol undenkbar gewesen, er hatte erst in der DDR seinen großen Auftritt. Zum Beispiel in der Klasse einer Pankower Schule, deren Hefte gleichfalls im Schrank liegen. Sechs Umschläge aus dem Jahre 1962 schmückt Thälmanns Konterfei.Die Dauerausstellung in der Wallstraße 32 (Mitte), die zur Stiftung Stadtmuseum gehört, kann dienstags bis freitags von 9 bis 17 Uhr besichtigt werden. Weitere Infos und Termine für Gruppenführungen unter Tel.: 275 03 83.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false