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Am Puls der Jugend. Wenn sich in der Stadt etwas ändert, bekommt das der Berliner Richter Sebastian Abel, 35, in seinem Saal schnell mit.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Sex, Dönerraub und Autorennen: Richter Sebastian Abel über die Dramen der Berliner Jugend

Bei Jugendrichter Sebastian Abel landen Berlins Problem-Teenager. Ein Interview über kreative Strafen, gutbürgerliche Kriminelle und die Ultima Ratio.

Sebastian Abel ist 35 Jahre alt und im Saarland aufgewachsen. Seit zwei Jahren arbeitet er als Jugendrichter in Berlin. Alle Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende (im Alter von 14 bis 21 Jahren) werden beim Amtsgericht Tiergarten verhandelt. Die meisten Verfahren werden von einem einzelnen Jugendrichter geführt. Hat der Angeklagte eine Gefängnis- oder Bewährungsstrafe zu erwarten, sitzen zwei Schöffen an der Seite des Strafrichters. Bei Tötungsdelikten übernimmt das Landgericht. Im Jahr 2018 hat die Polizei in Berlin 25.201 Tatverdächtige im Alter unter 21 Jahren registriert, 2009 waren es noch 31.167.

Herr Abel, wir sitzen hier in Ihrem Büro, an den Wänden hängen Star-Wars- und Futurama-Poster. Sie sind 35 Jahre alt, tragen Hoody, Glatze, Bart und Ray-Ban-Brille. Reagieren die Jugendlichen manchmal überrascht?
Bemerkungen über mein Äußeres habe ich noch nicht gehört. Wenn ich in Robe auf der Richterbank sitze, schafft das Distanz. Aber ich hatte neulich mal zwei Jungs hier, die sagten: Sie sind ein korrekter Typ – und deshalb benennen wir jetzt unseren Mittäter.

Wie das?
Ich hatte die beiden ein paar Wochen vorher freigesprochen, weil die Beweise nicht für eine Verurteilung gereicht hatten. Und dann erschienen sie wegen einer vergleichbaren Sache wieder hier, es ging um Einbruchdiebstähle in Spätkaufläden. Es war ein ähnlicher Modus Operandi, aber die Beweislage sah deutlich besser aus. Ein dritter Mittäter war geflohen. Bei Beginn der Hauptverhandlung saßen die beiden bedröppelt vor mir und sagten: „Wir kennen Sie vom letzten Mal und glauben, dass das für uns besser ausgeht, wenn wir den Dritten benennen.“ Die Staatsanwaltschaft musste nur mitschreiben: Name, Adresse, Geburtsdatum.

Das ist die Lektion fürs Leben: Petzen hilft?
Im Strafprozess zahlt sich das aus. Ist Aufklärungshilfe.

Als Jugendrichter verhandeln Sie in der Regel hinter verschlossenen Türen. Mal angenommen, ich säße ein ganzes Jahr lang auf der Zuschauerbank. Was für ein Bild hätte ich von dieser Stadt? Und ihrer Jugend?
Es wäre bunt gemischt, denn wir bekommen hier in vielen kleinen Prozessen ziemlich alles präsentiert, was das Leben zu bieten hat. Das reicht von den Jugendschutzsachen, wo es um Misshandlungen und den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen geht, bis zu Ladendiebstählen oder Schulhofschlägereien. Und oft passieren Sachen, die an Komik nicht zu überbieten sind. Es ist ein ganz anderer Umgang als mit den Erwachsenen, weil viele Jugendliche ihr Herz auf der Zunge tragen.

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Wann mussten Sie sich das Lachen verkneifen?
Neulich kam ein Kandidat, der sehr aufgeregt und von der Situation überfordert war. Als ich ihn nach dem Familienstand gefragt habe, antwortete er im Brustton der Überzeugung: „Gut!“ Weil das Wort Familienstand für viele Jugendliche ungebräuchlich ist, habe ich versucht, es zu umschreiben: „Na, wie heißt das denn, wenn man nicht verheiratet und nicht geschieden ist?“ Und er schaut mich mit großen Augen an und sagt: „Glücklich!“

Müssen Sie im Gericht Probleme ausbaden, die die Gesellschaft verursacht hat?
Vorm Jugendgericht werden wir Zeugen individueller Dramen. Nicht jeder Fall, den wir hier haben, ist ein Spiegel gesellschaftlicher Probleme. Als Jugendrichter entscheide ich nicht über Fehlentwicklungen in der Gesellschaft, sondern über einen konkreten Fall. Das ist schon schwierig genug. Selbst wenn es gelingen würde, an jeder Stelle gesellschaftspolitisch gegenzusteuern: Jugendkriminalität wird es immer geben.

Schon wegen der Hormone?
Situationen eskalieren in diesem Alter leichter. Erst letztens hatte ich hier einen 19-Jährigen, der aus völlig intaktem Hause kam und nie straffällig geworden war. Er hatte in einem Club am Ostbahnhof gefeiert, einen über den Durst getrunken und ist dann auf der Heimfahrt mit einem Taxifahrer über das Entgelt in Streit geraten. Die Auseinandersetzung ist völlig eskaliert. Die Anklage lautete dann räuberische Erpressung. Das ist ein Verbrechensvorwurf.

Wie viele Strafverfahren schaffen Sie im Jahr?
Ich kann nur für meine Abteilung sprechen und hatte im Jahr 2019 deutlich über 400 Fälle. Insgesamt 335 Einzelrichtersachen und rund 80 Schöffensachen. Das sind die schwereren Fälle, in denen eine Jugendstrafe, also Haft, im Raum steht.

Bei den Erwachsenen entscheidet ein Turnussystem darüber, bei welchem Richter man landet. Bei den Jugendrichtern richtet sich das nach dem Wohnort. Sie sind mit zwei anderen Kollegen für Reinickendorf zuständig. Was ist der Vorteil der örtlichen Zuständigkeit?
Man weiß, wer gegen wen und wer mit wem unterwegs ist. Es gibt ja auch Leute, mit denen man öfter zu tun hat und die schon einen gewissen Namen in der Szene haben.

Wie kann das konkret helfen?
Wir hatten da beispielsweise einen Einbruch im Supermarkt, wo auf den Überwachungsvideos fünf Täter zu sehen waren. Sie hatten Waren, unter anderem Alkoholika, in ihre Taschen gesteckt und dann mit dem Ladendetektiv gerangelt. Drei hatte man gefasst, zwei waren stiften gegangen. In der Polizeiakte hieß es, dass man diese beiden Täter nicht identifizieren konnte. Ich habe mir das Video angeschaut und dachte: Dieser bullige Körperbau, dazu die vornehmen Lederschuhe, den kenne ich doch! Es war der Kumpel des einen gefassten Täters.

Die Gesetzesmacht ist mit ihm. Im Büro von Sebastian Abel zeigt Darth Vader die Zeit an, Yoda grüßt vom Plakat an der Wand.
Die Gesetzesmacht ist mit ihm. Im Büro von Sebastian Abel zeigt Darth Vader die Zeit an, Yoda grüßt vom Plakat an der Wand.

© Katja Füchsel

Wie verhindern Sie kriminelle Karrieren?
Früher gab es für Jugendliche, die zum ersten Mal erwischt wurden, meist eine Einstellung des Verfahrens oder eine schriftliche Ermahnung. Mittlerweile ist man dazu übergegangen, die Jugendlichen bei kleineren Delikten ein beschleunigtes Jugendverfahren nach Paragraf 76 des Jugendgerichtsgesetzes durchlaufen zu lassen. Dann lernen sie auch nach dem ersten Fehltritt mal direkt einen Richter kennen.

Sie sprechen vom sogenannten Neuköllner Modell, das auf Initiative der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig zurückgeht. Stellen wir uns vor, eine 14-Jährige wird beim Ladendiebstahl erwischt. Wie geht es konkret weiter?
Mein Terminstand liegt zwischen sechs und acht Wochen. Wenn alles gut läuft, kann ich eine Tat aus dem April im Juli verhandeln.

Das ist viel Aufwand für einen Lippenstift.
Aber es hilft. Neulich hatte ich ein Mädel im Saal, das war gerade 14 geworden und wäre fast ohnmächtig geworden, so aufgeregt und eingeschüchtert war es. Es ging um einen Diebstahl im Drogeriemarkt und ich hatte gar nichts Böses mit ihr vor. Wir haben das Verfahren dann nach Ermahnung eingestellt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nie wieder hier erscheint.

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Aber das genügt nicht bei allen, oder?
Nein, aber das ist ja das Schöne am Amt des Jugendrichters. Bei den Erwachsenen geht es um Freispruch, Geldstrafe oder Freiheitsstrafe. Bei den Jugendlichen geht es um Erziehungsmaßregeln. Ich kann die Einzelfälle betrachten und mir als Auflage oder Weisung auch mal was Besonderes einfallen lassen.

Zum Beispiel?
Wenn es bei einer Schlägerei ein Opfer gab, das körperliche Schäden erlitten hat, kann man den Täter beispielsweise zu 50 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilen. Ich bestimme dann, dass der Jugendliche einen imaginären Stundenlohn von sieben Euro erhält. Die Summe bekommt am Ende aber nicht der Täter ausgezahlt, sondern geht als Schmerzensgeld an den Geschädigten.

Wer zahlt das Geld dann wirklich?
Jede Abteilung im Jugendgericht hat einen eigenen Schadenfonds. Ich habe etwa 3500 Euro in meinem angespart und gerade an den Verletzten einer Körperverletzung 700 Euro ausgezahlt. Ich muss selbst dafür sorgen, dass genug Geld in meinem Fond ist. Wenn ein Angeklagter zu Beispiel einen Job hat, kann man ihn auch verurteilen, eine bestimmte Geldsumme in den Fonds zu zahlen. Die Jugendgerichtshilfe sucht dann nach einem passenden Einsatzort, vermittelt die Jugendlichen an die Stadtmission oder ans Grünflächenamt. Es findet sich immer etwas. Auf diese Weise schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Der Jugendliche muss nach der Schule oder am Wochenende arbeiten gehen und der Verletzte bekommt das Geld. Das mache ich bei fast allen Körperverletzungen so.

Wie muss man Sie sich im Gerichtssaal vorstellen? Streng? Autoritär? Werden Sie manchmal laut?
Es bringt überhaupt nichts, im Saal emotional zu werden. Man muss nicht laut sein, um konsequent zu sein. Bei kleineren Fällen bitte ich die Leute manchmal nach vorne, um mit ihnen gemeinsam das Gesetz zu lesen. Da schauen wir dann, was der Diebstahl-Paragraf für eine Freiheitsstrafe vorsieht und dann sage ich: „Bis zu fünf Jahren. Wie alt sind Sie in fünf Jahren?“ Dann schauen die Angeklagten erschrocken, wenn sie antworten: „Oh, 19“. Danach setzen sich alle wieder hin und überlegen, wie es weitergehen könnte.

Was wissen Sie über die Herkunft und den Alltag der jugendlichen Gewalttäter?
Früher dachte ich, dass es da Stereotypen gibt: gescheitertes Elternhaus, der Vater kümmert sich nicht, die Mutter ist überfordert, der Junge geht nicht zur Schule, nimmt Drogen… Aber die Jugendkriminalität entzieht sich den Stereotypen.

Gibt es Fälle, wo Sie Schlimmes befürchten?
Es gibt da einen Jungen, den habe ich von Anfang an begleitet. Mit 15 war er das erste Mal hier, nachdem er in einem Jugendzentrum einem anderen gedroht hatte, ihn zu verprügeln, und ihm den Döner aus der Hand riss. Nach dem Motto: „Gib mir deinen Döner, sonst polier ich dir die Fresse!“ Das war eine räuberische Erpressung. Danach ging es Schlag auf Schlag, es kamen immer mehr Verfahren. Jetzt sitzt der Junge nach einer Verfolgungsfahrt eine mehrjährige Haftstrafe ab.

Zeichen der Zeit. Es ist schon vorgekommen, das Angeklagte ihm einen Mittäter verraten haben, weil sie den Richter für einen "korrekten Typ" halten.
Zeichen der Zeit. Es ist schon vorgekommen, das Angeklagte ihm einen Mittäter verraten haben, weil sie den Richter für einen "korrekten Typ" halten.

© Katja Füchsel

Was ist passiert?
Er stand schon unter Bewährung, ist ohne Fahrerlaubnis gefahren und fiel, weil er ja nun schon kiezbekannt war, einer Zivilstreife auf. Er hat die Nerven verloren, ist geflüchtet, hat einen Unfall gebaut – zum Glück ohne Verletzte.

Aus was für einem Elternhaus stammt der Junge?
Er ist deutscher Staatsbürger – wie fast alle, die ich hier habe. Wenn es einen Migrationshintergrund gibt, dann haben den meist die Großeltern. Die Familie des Jugendlichen war auch nicht von Armut geprägt. Die Eltern waren engagiert, hatten aber keinen Zugriff auf den Jungen. Er hat vier Geschwister, von denen ist kein Einziger straffällig geworden.

Wie erfährt die Polizei eigentlich von einem geklauten Döner?
Durch die Internetwache ist es einfacher geworden, eine Anzeige zu stellen. Von der Möglichkeit, online eine Anzeige zu erstatten, machen die Jugendlichen und ihre Eltern oft Gebrauch.

Hätten Sie gleich beim Döner härter durchgreifen müssen?
Es ist extrem wichtig, dass man schon bei der ersten Straftat klar macht, wohin das führen kann und dann auch konsequent bleibt. Im Wiederholungsfall können die Strafen bei mir aber recht schnell eskalieren. Der Junge hat binnen zwei Jahren alle Stufen mitgemacht: von Erziehungsmaßregeln über Arrest, Vorbewährung, Bewährungsbruch und jetzt Gefängnis.

Gibt es in Reinickendorf gefährliche Orte?
So würde ich das nicht nennen. Häufig spielen die Straftaten auch rund ums RAW-Gelände in Friedrichshain und den Alexanderplatz. Die Zuständigkeit richtet sich nach dem Wohnort. Aber die jungen Leute gehen abends aus, fahren durch die Stadt, trinken Alkohol, nehmen Drogen und verwickeln sich in Streitereien.

Sind das RAW-Gelände und der Alex gefährliche Orte für Jugendliche?
Man sollte nicht in Hysterie verfallen, aber vielleicht abends um 11 da nicht mit einem krachneuen iPhone 11 durchlaufen und es jedem zeigen.

Welche Drogen sind bei Gewaltdelikten am häufigsten im Spiel?
Manche ticken nur auf Alkohol aus, manche ohne alles, aber oft ist es ein Mischkonsum. In Berlin haben wir relativ viele synthetische Drogen, MDMA, Crystal Meth und Amphetamine, was natürlich mit der Feierszene verbunden ist. Bei den chemischen Drogen wissen die Jugendlichen oft nicht, was drin ist und wie es wirkt.

Es heißt, dass die Jugendkriminalität von heute die Erwachsenenkriminalität von morgen ist. Was rollt da auf uns zu?
Ich halte von dieser These nicht viel.

Aber gesellschaftliche Veränderungen spiegeln sich in Ihrem Gerichtssaal wider. Sie haben beispielsweise mit der ersten Generation zu tun, die mit dem Internet aufgewachsen ist.
Beleidigung, Verleumdung, üble Nachrede, Bedrohung, versuchte Nötigung in den sozialen Medien verhandele ich regelmäßig. Da geht es dann um Whatsapp- oder Instagramverläufe, in denen Beleidigungen gefallen sind und versendet wurden. Das macht die Ermittlungsarbeit der Polizei aufwändiger, weil die Handys ausgewertet werden müssen. Es gibt auch Fälle, wo das mal körperlich eskaliert.

Richtlinie. Sebastian Abel macht schon bei der ersten Straftat klar, wohin das führen kann - und bleibt Wiederholungsfall auch konsequent.
Richtlinie. Sebastian Abel macht schon bei der ersten Straftat klar, wohin das führen kann - und bleibt Wiederholungsfall auch konsequent.

© Doris Spiekermann-Klaas

Wie sieht es aus mit Sexting? Der Austausch von Nacktfotos scheint unter Jugendlichen recht verbreitet zu sein.
Diese Fälle gehören sicherlich zu den neueren Phänomenen, weil jedes Handy inzwischen über eine Kamera verfügt, mit der Fotos und Videos angefertigt werden können. Manche filmen sich auch beim Sex. Viele wissen aber nicht, dass sie sich strafbar machen wegen der Verbreitung jugendpornografischer Schriften, wenn sie diese Fotos oder Filme verschicken oder posten. Auch wenn sie selbst minderjährig sind und dies einvernehmlich geschieht. Teilweise ist schon das Anfertigen strafbar. Da landet man ganz schnell im strafrechtlichen Bereich.

Wie gehen Sie an solche Fälle heran?
Das sind sehr sehr schwierige Verhandlungen. Ich habe es mit ganz jungen Menschen zu tun, die am Anfang ihrer sexuellen Entwicklung stehen und nun vor Gericht etwas sehr Intimes klären müssen. Die sollen ja nicht so traumatisiert werden, dass sie nie wieder ein normales Verhältnis zur Sexualität entwickeln. Es hilft aber, wenn man in der Sitzung mit sämtlichen Beteiligten redet. Da ist Augenmaß gefragt. Vielen ist nicht klar, wo die Strafbarkeitsgrenze verläuft. Selbst ich muss manchmal im Gesetz nachschauen, um zu wissen, wer was mit wem darf.

Versuchen manche Jugendliche, sich mit einer Anzeige gegenseitig eins auszuwischen?
Das kommt vor. Neulich hatte ich einen 16-Jährigen, der der Vergewaltigung angeklagt war. Ich kannte den Jungen, weil ich ihn schon zwei Mal verurteilt hatte, einmal wegen BTM – also Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz – und einmal wegen Diebstahl. Vergewaltigung schien auf den ersten Blick nicht so recht zu ihm zu passen. Als dann in der Hauptverhandlung das mutmaßliche Opfer über die Nacht aussagte, erhärteten sich die Zweifel und ich fragte: „Das klingt jetzt alles aber sehr einvernehmlich?“ Und das Mädchen antwortete: „Ja, in diesem Moment war es das auch. Aber als er es dann später seinen Kumpels erzählt hatte, da war es eben nicht mehr einvernehmlich.“

Die Zahl der Gewalttäterinnen steigt seit Jahren langsam, aber kontinuierlich an. Ist das die andere Seite der Gleichberechtigung?
Gewaltdelikte sind keine exklusive Männerdomäne mehr. Prügeleien zwischen Mädels oder Prügeleien, bei denen Mädels Jungs verdroschen haben: das kommt vor. Letztens hatte ich eine Schlägerei in einer Schule, da ging es um Eifersüchteleien um einen Jungen, die eskaliert sind. Aber ganz schwere Raub- oder Gewalttaten hatte ich unter weiblicher Beteiligung noch nicht.

Seit Oktober 2017 sind illegale Autorennen eine Straftat. Hat sich das schon ausgewirkt?
Bei mir ging es bislang immer um die Alleinfahrervariante. Also um sogenannte Profilierungsfahrten, wo der Fahrer sich, wie es im Gesetz heißt, mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Fälle sind in der Praxis aber sehr schwierig nachzuweisen.

Warum?
Ich habe beispielsweise einen Fall eingestellt, in dem die Polizei dem Fahrer vorwarf, dass er über 800 Meter stark beschleunigt habe. Es konnte nicht einmal nachgewiesen werden, wie schnell das Auto war. Das ist zu dünn. In einem anderen Fall kam es zum Urteil. Da war der Fahrer – knapp über 18 Jahre alt – vier Kilometer durch die Stadt gefahren, hatte mehrfach rechts überholt, war beim Abbiegen über eine rote Ampel gebrettert.

Wie lautete das Urteil?
Der Führerschein war weg, ich habe das Auto als Tatmittel eingezogen und ihm einen Verkehrserziehungskurs und Freizeitarbeit auferlegt.

Tendenz fallend. Sebastian Abel ist einer von 40 Jugendrichtern in Berlin. Im Jahr 2018 hat die Polizei 25 201 Tatverdächtige im Alter zwischen 14 und 21 Jahren registriert, 2009 waren es noch 31 167.
Tendenz fallend. Sebastian Abel ist einer von 40 Jugendrichtern in Berlin. Im Jahr 2018 hat die Polizei 25 201 Tatverdächtige im Alter zwischen 14 und 21 Jahren registriert, 2009 waren es noch 31 167.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Schwarzfahrer kommen deutlich günstiger davon, oder?
Die Auswirkungen sind aber oft enorm, weil für die Jugendlichen da ein Riesenrattenschwanz dranhängt: Es geht los mit den erhöhten Beförderungsentgeldern von 60 Euro. Viele werfen die Briefe der BVG weg oder verstehen sie nicht. Als nächstes kommt dann ein Brief der Anwaltskanzlei, weil die BVG ihre Forderung abgetreten hat, der dann ebenfalls nicht beantwortet wird. Es geht sehr schnell und schon haben die Jugendlichen 800 oder 900 Euro Schulden, die auch nicht so schnell verjähren wie andere schuldrechtliche Ansprüche.

Was können Sie da tun?
Ich kann in solchen Fällen die Weisung erteilen: „Okay, wir stellen das Verfahren hier ein, aber du musst beweisen, dass du zur Schuldnerberatung für Jugendliche gehst.“ Sonst entwickelt das eine Dynamik, mit der die jungen Menschen nicht klarkommen.

Zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 gab es die Sorge, dass wir in Berlin mit einem Anstieg der Jugendkriminalität zu rechnen haben, weil wir die vielen Kinder und Jugendlichen nicht auffangen können, die durch die alltägliche Gewalt in ihren Heimatländern oder auf der Flucht traumatisiert wurden.
Von einer Gewaltwelle kann keine Rede sein, aber ich habe immer mal wieder mit Angeklagten zu tun, die als unbegleitete Flüchtlinge nach Berlin kamen und uns über Kriegs- und Fluchttraumata berichten. Neulich hatte ich eine Prügelei von Flüchtlingen untereinander, die sich Vorwürfe politischer Natur gemacht hatten. Der eine hatte einen syrischen, der andere einen kurdischen Hintergrund.

Geht es mit der Integration dieser Kinder voran?
Manche lernen schnell Deutsch, durchlaufen problemlos die Willkommensklassen und landen dann bei mir, weil sie beim Feiern beispielsweise beim Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz erwischt wurden. Wobei man als Tourist zum Beispiel auf der Warschauer Brücke ja auch durchaus auf den Gedanken kommen könnte, dass Kiffen hierzulande völlig legal ist. Andere bekommen hier keinen Fuß auf den Boden und werden eher wegen der Perspektivlosigkeit straffällig.

Was machen Sie mit solchen Fällen?
Man muss einen Ausgleich finden und auf der einen Seite ganz klar machen: „So geht’s nicht, du kannst hier keine Straftaten begehen.“ Und auf der anderen Seite Hilfestellungen für den Spracherwerb oder die Ausbildung geben, damit der Jugendliche sein Leben in den Griff bekommt.

Wie sieht es aus mit politischen Straftaten?
Habe ich in Reinickendorf wenige. Ab und zu gibt es eine Volksverhetzung, weil ein Jugendlicher auf Facebook über Homosexuelle oder andere Teile der Bevölkerung gehetzt hat. Das sind in der Regel aber keine tiefgreifenden Überzeugungstäter, sondern eher Gelegenheitstäter, die im Internet etwas teilen und noch ihren Senf dazugeben. Letzte Woche hatte ich ein junges Mädel, das war 16 und hatte in der Regionalbahn angetrunken den Hitlergruß gezeigt. Das war keine Hardcore-Rechte. In der Verhandlung erscheinen die Jugendlichen dann ziemlich kleinlaut.

Sie sagen, dass es sich bei den Gewalttätern um Einzelfälle handelt. Aber der Schrecken, den diese Einzelfälle im Kiez verbreiten, betrifft viele.
Manche Fälle erreichen eine gesellschaftspolitische Relevanz, über die wir reden müssen. Gewalt im öffentlichen Personennahverkehr ist so ein Thema, weil es jeden treffen kann und deshalb die Menschen umtreibt. Ich hatte im Jahr 2018 einen Fall, bei dem mich vor allem die komplette Willkür der Täter sehr beschäftigt hat.

Hinter verschlossenen Türen. Sebastian Abel ist vor 35 Jahren im Saarland geboren. Seit zwei Jahren ist er als Jugendrichter für die Heranwachsenden in Reinickendorf zuständig.
Hinter verschlossenen Türen. Sebastian Abel ist vor 35 Jahren im Saarland geboren. Seit zwei Jahren ist er als Jugendrichter für die Heranwachsenden in Reinickendorf zuständig.

© Doris Spiekermann-Klaas

Erzählen Sie!
Drei Freunde waren nachts in der U2 unterwegs und haben sich über eine Transgenderperson lustig gemacht und sie beleidigt, weil sie Frauenkleidung trug. Als das Opfer am Bahnhof Bülowstraße aussteigen wollte, holte einer Schwung an der Haltestange, um es in den Rücken zu treten. Ein anderer stieß das Opfer auf den Bahnsteig. Weil einer der Täter 19 war, wurde der Prozess öffentlich verhandelt. Die Presse nahm ihn zum Anlass, um über Gewalt im öffentlichen Personennahverkehr, Videoüberwachung und Notrufsäulen zu diskutieren.

Was haben die Drei bekommen?
Für die beiden Gewalttäter gab es je vier Wochen Dauerarrest und einen Anti-Gewaltkurs. Der Dritte hatte nur Beihilfe geleistet und kam mit 40 Stunden Freizeitarbeit davon. Ich versuche immer, das Warum zu ergründen, um gegensteuern zu können. Das ist bei Taten, die aus reiner Willkür bestehen, schwer.

Was wissen Sie über den Leidensdruck der Opfer?
Ein erfahrener Kollege sagte mal zu mir: Verhandele niemals, ohne auch den Verletzten zu hören. Und sei es nur, damit sich der Angeklagte, falls gewünscht, entschuldigen kann. Ich rate dann: „Stehen Sie auf, entschuldigen Sie sich und nicht vergessen: In einer guten Entschuldigung kommt das Wort aber nicht vor.“

Sie laden die Verletzten auch, wenn der Sachverhalt geklärt ist?
Die Straftat bekommt ein anderes Gesicht, wenn alle hören, was die Tat ausgelöst hat, wie es dem Verletzten damals ging, wie es ihm heute geht. Jugendliche, die im Personennahverkehr abgezogen worden sind, berichten oft, dass sie ein komisches Gefühl begleitet, wenn sie mit nur wenigen Leuten in der U-Bahn sitzen. Manche sind froh, dass der Vorfall mit der Verhandlung einen Abschluss findet und haben das Gefühl, dass ihnen die Entschuldigung hilft.

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Auf dem Regal hinter Ihnen stapeln sich die Akten. Können Sie ungefähr einschätzen, auf welche Bereiche sich dieser Berg verteilt?
Grob geschätzt habe ich ein Drittel Massendelikte wie Ladendiebstahl und Erschleichen von Leistungen.

Also Schwarzfahren.
Etwa ein Drittel sind Gewaltdelikte, also auch Raub, räuberische Erpressung.

Und das letzte Drittel?
Der ganze Rest. Dazu kommen noch die Jugendschutzsachen gegen zumeist erwachsene Täter und die Schul-Owis, also Ordnungswidrigkeiten, gegen die Eltern.

Warum sind Sie beim Schwänzen so hinterher?
Bei den Jugendlichen ist es immer das Wichtigste, dass sie im sozialen System bleiben. Wenn jemand nicht die Schule besucht, ist das ein gravierendes Problem. Schule gibt Struktur, sichert soziale Kontakte und sorgt dafür, dass die Leute nicht vom Radar verschwinden. Lehrpersonal und Sozialarbeiter an den Schulen bekommen mit, wenn es bei einem Kind Probleme gibt.

Was können die Eltern dafür, wenn ihr pubertierender Sohn auf dem Weg zur Schule ins Einkaufszentrum abbiegt?
Dieses Argument höre ich von den Eltern. Es ist aber ihre gesetzliche Pflicht zu überprüfen, dass das Kind zur Schule geht. Sie müssen es hinbringen und auch aufpassen, dass es dableibt. Das habe ich auch den Eltern erklärt, die neulich bei mir waren, weil ihre Tochter 81 Fehltage angesammelt hatte. Sie haben ihren Widerspruch gegen den Bußgeldbescheid zurückgenommen.

Haben Sie so etwas wie ein Patentrezept?
Das Beste, was man machen kann: Alle mit ins Boot holen, also nicht nur die Eltern, sondern auch die Jugendgerichtshilfe, die Bewährungshelfer, Einzelfallhelfer, Sozialarbeiter... Für mich ist Kommunikation ein entscheidender Faktor. Man erfährt immer etwas Nützliches, das einem hilft, individuell zu reagieren. Wenn Fälle schieflaufen, liegt es oft daran, dass man sich für das pädagogisch falsche Mittel entschieden hat, weil man nicht herausgefunden hat, wo das eigentliche Problem des Jugendlichen liegt.

Patentrezept. Richter Sebastian Abel schwört darauf, alle Beteiligten mit ins Boot zu holen. Kommunikation sei ein entscheidender Faktor.
Patentrezept. Richter Sebastian Abel schwört darauf, alle Beteiligten mit ins Boot zu holen. Kommunikation sei ein entscheidender Faktor.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Haben Sie ein Beispiel?
Gerade neulich hatte ich so einen Fall: Ein Jugendlicher war durch mehrere kleinere Gewaltdelikte mit Nötigungscharakter aufgefallen, das hat mir gar nicht gefallen. Er war mit seinen Kumpels durch die Jugendzentren gezogen und so etwas wie der Schrecken der Nachbarschaft. Da sind immer wieder Sätze gefallen wie: „Du hast um Gnade zu bitten. Du hast dich bei mir zu entschuldigen.“ Es hatte sich gezeigt, dass dieser 16-Jährige pädagogisch schwer zu erreichen ist.

Also hilft nur Strafe?
Nein, denn alle zusammen haben in der Hauptverhandlung herausgefunden, dass es in einem Anti-Gewalt-Training einen Sozialarbeiter gab, mit dem er wirklich gut klarkam. Er war so etwas wie seine männliche Bezugsperson, hatte als Einziger einen Draht zu ihm. Bei diesem Trainer war er zuverlässig und pünktlich. Also habe ich den Mann als Zeugen gehört und beschlossen, dieses Verhältnis zu nutzen und auszubauen.

Wie das?
Der Junge hat als Stop-Signal vier Wochen Arrest gekriegt, aber eben auch eine Weisung. Er ist jetzt ein Jahr lang genau diesem Trainer als Betreuungshelfer unterstellt. An ihn kann sich der Jugendliche mit all seinen Problemen wenden, also von der Ausbildungsplatzsuche bis zur Schuldnerberatung. Man darf bei aller Konsequenz nie vergessen: Es heißt zwar Jugendstrafrecht, aber eigentlich ist es Jugenderziehungsgesetz. Die Strafe ist die Ultima Ratio.

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