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Berlin: Rudolf Wilhelm (Geb. 1958)

Für immer jung bleiben, so wie in der alterslosen Welt des Geistes.

Ein junger muskulöser Mann von der Baywatch Miami paddelt auf einem Surfbrett ins Meer, in der Hand einen Strauß roter Rosen. Vom Strand aus ist er nur noch als Punkt zu erkennen, als er innehält und die Rosen ganz langsam einzeln ins Wasser wirft.

Kennengelernt hatten sich Gülcin und Rudolf auf einer Geburtstagsparty. Gülcin war Anfang 30, vor zehn Jahren aus der Türkei gekommen, hatte studiert, gearbeitet und turbulente Beziehungen geführt. Von deutschen Intellektuellen hatte sie die Nase voll: „Nächstes Mal ein Tischler“. Rudolf war kein Tischler. Er war ein großer, schlaksiger, gut aussehender, jungenhaft lächelnder Intellektueller mit Brille und großem Fremdwortschatz. Er hatte etwas an sich, das Gülcin Sicherheit gab. Völlig selbstverständlich und ohne Tumult wurden die beiden ein Paar und heirateten wenige Monate später. Eine große, undefinierbare Liebe verband sie – und jeder führte weiterhin sein eigenes Leben: Ging sie zum Jazzkonzert, hörte er zu Hause seine Deep-Purple-Platten, traf sie Freunde, las er Bücher, reiste sie nach Rom, hielt er sich in Kambodscha auf. Aber mindestens dreimal am Tag telefonierten sie. Einmal wurde Rudolf von einem Journalisten interviewt: „Wie ist es für Sie, mit einer Türkin verheiratet zu sein?“ Rudolf überlegte einige Minuten, dann sagte er: „Keine Ahnung. Gülcin ist Gülcin.“

Sein Lebensweg verlief nicht ganz gradlinig, aber so, dass er öfter sagte, er habe ein sehr schönes Leben. Geboren und aufgewachsen in Olpe, studierte er an der FU Berlin Psychologie, wechselte dann zum Bereich „Datenschutz“ an der TU. Er schrieb eine Doktorarbeit im Fach Informatik. 1998 wurde er an die Fachhochschule Merseburg zum Professor für Wirtschaftswissenschaften berufen und pendelte seitdem zwischen den beiden Städten. In Berlin wohnte er zehn Jahre in Neukölln, anschließend neun Jahre in Mitte mit Gülcin zusammen. Stofftiere waren ihre Kinder, fünf an der Zahl: zwei Affen, zwei Bären, ein Löwe.

Vor drei Jahren erhielt er an seiner Universität einen Pokal der Studenten: „Freundlichster Dozent“. Rudolf ging in seiner Arbeit auf: Neben seinem regulären Uni-Job verdingte er sich als Unternehmensberater, war Pro-Dekan, Vorsitzender des Prüfungsausschusses. Trotzdem nahm er sich Zeit für viele, oft längere Reisen, die er nicht nur intensiv vorbereitete, sondern auch in Ordnern sorgfältig dokumentierte. In Rudolfs Nachlass finden sich neben rund 100 Tagebüchern auch sechs große Kisten mit Reiseliteratur und 50 „Erinnerungskisten“, teils „Jahreskisten“, teils „Länderkisten“, vollgestopft mit Broschüren, Postkarten und fast jedem Zettel, den Rudolf in einem anderen Land in die Hände bekam. Als Gülcin einmal eine Eintrittskarte zu einem Museum im Monument Valley einfach wegwerfen wollte, wunderte er sich.

Von 1991 an fuhren die beiden jedes Jahr für vier Wochen in die USA, so auch in diesem Jahr, obwohl seine Augenprobleme wieder begonnen hatten. Gleich nach der Rückkehr aus den USA sollte er fünf Spritzen bekommen. Gülcin kam ihr Mann in der letzten Woche seines Lebens sehr dünn vor. Sie meinte, es sei die Angst um sein Augenlicht, die ihm den Appetit genommen hatte.

Rudolf wollte immer jung bleiben, so wie in seiner alterslosen Welt des Geistes, in die er sich gerne zurückzog, tief in Gedanken, hochkonzentriert, weggetreten. „Rudi im Zen-Zustand“, wie Gülcin es nannte. Den Nachmittag des 19. Juli verbrachte er mit einer seiner liebsten Urlaubsbeschäftigungen: stundenlang im Wasser stehen, ab und an hin und her gehen und dabei nachdenken. Am 20. Juli fand Gülcin ihren Mann tot im Hotelbett. Später bei der Autopsie wurde ein Versagen der Bauchspeicheldrüse festgestellt.

Der junge Mann betrachtet die Rosen noch eine Weile, dann paddelt er langsam zurück an den Strand. Dort steht eine fassungslose Frau und starrt zu der Linie, wo sich Meer und Himmel berühren. Anselm Neft

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