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Berlin: S-Bahn ratlos: Wie kamen zwei Züge auf ein Gleis?

33 Verletzte, als die S 25 am Südkreuz auf Werkstattzug prallte. Techniker prüfen, warum Signale den Unfall nicht verhinderten

Der Unfall durfte eigentlich nicht passieren, technisch sei das ausgeschlossen, das betonten Experten und Sprecher der Bahn gestern immer wieder. Doch um 10 Uhr 25 prallte ein mit über 100 Fahrgästen besetzter Zug auf einen haltenden Prüfzug – in der unteren Ebene des neuen Bahnhofs Südkreuz. Zwei Menschen wurden schwer, mindestens 31 leicht verletzt. Die Feuerwehr löste Großalarm aus, 46 Rettungswagen und Feuerwehrautos mit 130 Sanitätern rasten zu der erst im Mai fertig gestellten Kreuzungsstation, ein Notarzt wurde per Hubschrauber eingeflogen. Innensenator Ehrhart Körting und der neue Feuerwehrchef Wilfried Gräfling kamen zur Unglücksstelle. Der Verkehr auf der Nord-Süd-Bahn wurde eingestellt, ab 12 Uhr 20 fuhren Züge auf dem freien Gleis an der Unfallstelle wieder vorbei. Die Schadenshöhe steht nicht fest. Die Bundespolizei wird jetzt den Fahrtenschreiber auswerten, Signaltechnik prüfen und Zeugen befragen. Möglicherweise schon heute könnte es erste Ergebnisse geben.

Wieso der S-Bahn-Zug auf das eigentlich für ihn gesperrte Gleis gelangte, war gestern nicht zu klären. Das Unglück hätte noch schlimmer ausgehen können. Da aber die S-Bahn am Bahnsteig halten wollte, hatte sie ihr Tempo schon stark gedrosselt. Mit Tempo 20 fuhr sie auf den am Bahnsteig stehenden Prüfzug auf. Außerdem hatte der Fahrer der S-Bahn seinen Fahrgästen noch „Hinlegen“ zugerufen, bevor es Sekunden später krachte.

Der Messzug soll auf dem Gleis am roten Signal gewartet haben. Das 58 Tonnen schwere Fahrzeug wurde durch den Aufprall 20 Meter nach vorne geschleudert. Unklar blieb, wieso der Fahrer der einfahrenden S-Bahn den Prüfzug nicht vorher sah und entsprechend stärker bremste. Das Gleis ist gerade, es herrschte gute Sicht. Möglicherweise hatte der Fahrer bei der Einfahrt mehr auf den Bahnsteig gesehen als auf das Gleis vor ihm. Es ist ein Grundprinzip der Eisenbahn, dass auf einem Gleis nur ein Zug sein darf. Wieso dieses Prinzip gestern nicht galt, blieb unklar. Auf der Strecke ist modernste Signaltechnik eingebaut.

Ein verletzter Fahrgast berichtete: „Ich war zu neugierig, ich bin stehen geblieben, um mehr zu sehen. Dann wurde ich gegen eine Stange geschleudert.“ Die Zahl der Verletzten dürfte höher als offiziell angegeben liegen, da einige Reisende eine Behandlung ablehnten. „Ich muss den Zug nach Leipzig erreichen“, sagte etwa der aus Kanada stammende Mike Lewis eine halbe Stunde nach dem Unfall. Mit Taschentüchern wischte er sich das Blut von einer Kopfplatzwunde. „Der Rücken schmerzt auch“, sagte der Geschäftsmann. Er habe im zweiten Wagen gesessen, als es plötzlich krachte. „Ich bin zu Boden gefallen, überall waren Glasscherben“, sagte der Kanadier. „Dann war es still im Zug.“

In den ersten drei Waggons wurden sehr viele Trennscheiben zwischen Sitzen und Türbereichen zerstört, als Menschen dagegenstürzten. Durch diese Splitter wurden mehrere Menschen leicht verletzt. Nach Angaben der Bahn habe es sich um ein Sicherheitsglas gehandelt, das bei Gewalteinwirkung in kleinste Teile zerbrösele; anders als übliche Glasscheiben, bei denen scharfe Splitter entstehen.

Der Triebwagen der privaten Firma „Pethoplan“ sollte im Auftrag der DB die Schienen mit Ultraschall überprüfen, sagte Geschäftsführer Rüdiger Petrusch. Weitere Angaben machte er nicht. Der in den USA hergestellte Zug ist im ganzen Bundesgebiet unterwegs. Die Gleise im Südkreuz sind zwar neu, werden aber alle sechs Monate mit Ultraschall auf Haarrisse und Beschädigungen untersucht. Normalerweise würde nachts geprüft, weil dann weniger Verkehr auf den Gleisen sei, sagte ein Bahnsprecher. Gestern allerdings war der Spezialtriebwagen dort tagsüber auf Messfahrt.

Der S-Bahn-Zug gehört zur neuesten Bauart 481, er ist erst vor wenigen Jahren in Dienst gestellt worden. Der Unglückszug war gestern als S 25 auf dem Weg von Teltow nach Hennigsdorf. An beiden Fahrzeugen wurden die Frontbereiche deformiert, die Puffer sind verbogen.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr, Frieder Kircher, sagte, dass man viel Glück gehabt habe. Wenn die S-Bahn auf freier Strecke auf den Messwagen geprallt wäre, hätte es bei deutlich höherer Geschwindigkeit Tote geben können. Zudem sei der Abtransport der Verletzten in einem modernen Bahnhof viel einfacher als auf der Strecke. Auch Feuerwehrchef Gräfling sagte, „der Blutdruck ging schnell wieder runter, als klar war, dass fast alle nur leicht verletzt waren“.

Unfälle mit getöteten Fahrgästen hatte es zuletzt 1945 und 1946 gegeben – verursacht durch kriegsbedingt fehlende Sicherungstechnik.

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