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Schulen finanzieren mit Hilfe ihrer flexiblen Mittel auch externe Experten für die inklusive Schulentwicklung.

© Jonas Güttler/dpa

Einzigartige Schule in Berlin-Spandau: „Wir nehmen jeden auf, egal welche Behinderung er hat“

An der „Schule ohne Grenzen“ lernen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam. Der 16 Millionen Euro teure barrierefreie Neubau wurde durch Spenden finanziert.

Der Junge mit den blonden Haaren leistet Feinarbeit. Er muss einen Kreis ausmalen, mit roter Farbe, kein Strich soll über die Linien hinausgehen. Also führt er den Farbstift langsam, hochkonzentriert, akkurat. Und er geht auf Nummer sicher, die Striche enden kurz vor der Kreislinie, er will unbedingt innerhalb der Grenzen bleiben.

Eine beträchtliche Leistung des Jungen, er ist vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Denn er ist nicht allein, neben ihm sitzt eine Pädagogin, die jeden Strich genau verfolgt, die motiviert, die lobt. Und ab und zu blickt der Junge auf sein Werk, zur Frau neben sich, er lächelt. Er ist geistig behindert, er kann den Stift nicht wirklich gerade führen, die Striche sind leicht krumm.

Aber das zählt nicht. Es zählt, dass er überhaupt in der Lage ist, so zu arbeiten. Und in diesem Moment zählt auch, dass acht Meter weiter Frauke Walther vor einer Tafel steht, auf der sie „Lernwörter üben“ geschrieben hat. Die Schüler der Klasse 2a, die Schüler der Deutsch-, Kunst- und Religionslehrerin Walther sollen Lernwörter üben, ein paar Meter nur von dem Jungen mit dem Stift entfernt.

So sieht Unterricht aus im „Reinhard-Lange-Haus“ in Spandau aus, auf dem Gelände des Evangelischen Johannesstifts. In dem viergliedrigen Flachbau sind die Evangelische Schule Spandau, eine Regelschule, und die August-Hermann-Francke-Schule für geistig und körperlich behinderte Schüler, zusammen gefasst. Die Einrichtung hat noch einen anderen Namen, „Schule ohne Grenzen“ – ein Name als Programm. Denn dieses Projekt ist bundesweit nahezu einzigartig.

Regelschüler und Kinder und Jugendliche mit geistiger und körperlicher Behinderung, oft mehrfach beeinträchtigt, lernen hier zusammen. Doch das allein macht die Lehranstalt noch nicht so besonders, solche Kombinationen haben andere Schulen auch. Aber das Konzept, die Ausstattung, seine Offenheit, das alles hebt das Reinhard-Lange-Haus heraus.

„Wir wollen, dass alle Kinder sich hier gemeinsam erleben“

„Wir nehmen jedes Kind, egal welche Art und welchen Grad von Behinderung es hat“, sagt Ulrike Müller. Sie leitet die August-Hermann-Francke-Schule. Neben ihr im Lehrerzimmer des Reinhard-Lange-Haus hat Thomas Brand Platz genommen, der Leiter der Evangelischen Schule Spandau.

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Die Regelschüler der ersten bis sechsten Klasse aus Brands Einrichtung und die Schüler der Francke-Schule sind im barrierefreien, 16 Millionen Euro teuren Reinhard-Lange-Haus untergebracht. Insgesamt 260 Schüler lernen in dem Neubau mit den sehr breiten Gängen, der Ende August offiziell eingeweiht wurde.

Die Grundidee des Projekts ist allgemein bekannt: „Wir wollen, dass alle Kinder sich hier gemeinsam erleben, mit ihren Problemen, mit ihrem Tempo, mit ihren Wünschen“, sagt Ulrike Müller. Der Kontakt mit behinderten Kindern soll zum Alltag werden. Deshalb lernen die Schüler in Partnerklassen gemeinsam. Jede der beiden Schulen hat zwar eigene Unterrichtsräume, aber es gibt für jede Klasse auch Gemeinschaftsräume, in denen die Unterschiede aufgelöst sind.

Es gibt sogar einen Schüler, der im Wachkoma liegt

Das Projekt „Ferienausstellung“, das auf einem Raumteiler hinter den Tischen der 2a aufgebaut ist, steht als Symbol dafür. Jeder Schüler, ob behindert oder aus der Regelschule, hat erzählt oder gemalt, was er in den Ferien erlebt hat. „Wir singen auch gemeinsam“, sagt Frauke Walther, „wir fragen, was die jeweils anderen gelernt haben. Gedichte zum Beispiel. Die sagen wir dann gemeinsam auf.“

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Jede Lerngruppe hat genügend Personal. „Auf sechs bis sieben behinderte Kinder kommen vier Personen, die sie betreuen“, sagt Müller. Es gibt Pädagogen und Betreuer mit hochwertigen medizinischen Kenntnissen, es gibt Frauen mit Krankenpflegeausbildung.

Die Qualifikationen sind nötig. Da die Schule jeden aufnimmt, der geistig und körperlich behindert ist, sind die Herausforderungen entsprechend groß. Im Moment ist sogar ein Schüler in der Einrichtung, der im Wachkoma liegt. „Er ist Teil der Gruppe“, sagt Ulrike Müller. „Er bekommt eine Tagesstruktur, er hört Geräusche, er spürt Berührungen. Aber natürlich kann man mit ihm kein normales Lernen machen.“

In Extraräumen findet individuelle Therapie statt

Doch die Schule ermöglicht anderen Kindern ein möglichst normales Lernen oder jedenfalls ein Lernen, das ihren Fähigkeiten entspricht. In Extraräumen, gut ausgestattet, findet individuelle Therapie statt, eine Ergänzung zum normalen Unterricht. Speziell ausgebildete Fachkräfte kümmern sich um die Kinder. Hier ist auch der blonde Junge motorisch so betreut worden, dass er nun ist der Lage ist, eine Fläche auszumalen.

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Ein wesentlicher Vorteil der Schule hängt auch an der Decke eines Therapieraums. Eine meterlange Schiene, an der ein stationärer Lifter entlang gleitet. Er fährt zu Geräten, an denen körperlich behinderte Schüler üben können. Sie werden dazu in Tragegurte geschnallt, der Lifter erleichtert dem Personal enorm, die Kinder hochzuheben. Insgesamt gibt es vier dieser Lifter, jeweils 20 000 Euro teuer. „Die stationären Lifter sind einfacher zu bedienen als die mobilen, die wir bisher hatten“, sagt Ulrike Müller. Ein Lifter hängt auch in einer Toilette.

Ein erheblicher Teil der Bausumme stammt aus Spenden, und die mit Abstand größte Einzelspende überwies der Unternehmer Reinhard Lange. Deshalb ist das Haus nach ihm benannt. Das Geld floss unter anderem in einen weitläufigen Pausenhof, bei dem in einer Ecke Sitzblöcke so angeordnet sind, dass sie wie eine Art Mini-Amphitheater wirken. Es gibt einen Sandkasten, Baumstümpfe zum Sitzen, eine Spielwiese.

Noch essen die Kinder nicht gemeinsam

Noch aber verlaufen auch Trennlinien zwischen den Schülern. Noch essen die Kinder je nach Schule getrennt, sowohl beim Frühstück als auch beim Mittagessen. „Die Kinder agieren in unterschiedlichem Tempo“, sagt Ulrike Müller, deshalb gehe das nicht anders. Aber irgendwann soll zumindest das Mittagessen gemeinsam eingenommen werden.

Schließlich hat ja auch das Gesamtprojekt sein eigenes Tempo. Niemand kann erwarten, dass alles von vornherein tadellos funktioniert. „Bei uns“, sagt Thomas Brand, „geht es auch darum, Erfahrung zu sammeln.“

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