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Die Ernst-Reuter-Schule in Wedding

© Marc Eggert

Antisemitismus an Schulen: "Wir reden hier nicht von Einzelfällen"

Mobbing, Antisemitismus und Gewalt sind grundsätzliche Probleme an Schulen. Marc Eggert, Lehrer an der Ernst-Reuter-Schule, spricht darüber – und was die Schule dagegen tut.

Herr Eggert, Sie sind Lehrer an der Ernst-Reuter-Schule in Gesundbrunnen. Sie haben lange überlegt, ob wir Ihren und den Schulnamen nennen sollen. Warum?

Als Lehrer steckt man in einem Dilemma: Einerseits möchte man an der Debatte teilnehmen, andererseits gibt es den Effekt, dass die eigene Schule häufig eher Nachteile hat, wenn sie in den Medien genannt wird.

Inwiefern?

In der öffentlichen Diskussion um Themen wie „Mobbing“ und „Antisemitismus“ entsteht schnell der Eindruck, dass nur einzelne Schulen mit solchen Problemen konfrontiert sind. Das stimmt zwar nicht, aber Eltern, Schülerinnen und Schüler oder neue Kollegen bilden sich dennoch auf dieser Basis eine Meinung über diese Schulen. Das kann wiederum negative Auswirkungen auf Anmeldungen oder Bewerbungen haben und Ähnliches. Da muss man gut überlegen, ob man genannt werden möchte.

Warum tun Sie es trotzdem?

Ich habe mit meiner Schulleitung darüber gesprochen. Wir haben den Eindruck, dass die Bereitschaft wächst, diese Probleme weniger als Verfehlungen einer einzelnen Schule, sondern mehr als Aufgabe des gesamten Bildungssystems zu begreifen. Die Probleme sind da und wir müssen sie gemeinsam angehen.

Auch an Ihrer Schule gab es einen antisemitischen Vorfall. Hat Ihre Schule ein Problem mit Antisemitismus?

Ich finde nicht, dass es erst dieses Vorfalls bedurfte, um zu erkennen, dass wir im Bereich Antisemitismus grundsätzliche Probleme haben. Sowohl an unserer Schule als auch an vielen anderen Schulen und in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft. Wir reden hier in meinen Augen nicht nur von einzelnen Vorfällen, sondern von einer Tendenz, die unsere Gesellschaft als Ganzes betrifft.

Marc Eggert, Lehrer an der Ernst-Reuter-Schule.
Marc Eggert, Lehrer an der Ernst-Reuter-Schule.

© privat

Wie gehen Sie mit dem Vorfall an Ihrer Schule um?

Wir gehen transparent damit um und stehen in engem und vertrauensvollem Kontakt zur Antidiskriminierungsbeauftragten Saraya Gomis. Und die Ernst-Reuter-Schule hat sich entschlossen, mit Marina Chernivsky und Romina Wiegemann vom Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland eine prozessbegleitenden Weiterbildung und Supervision zum Thema Antisemitismus und Diskriminierung zu etablieren. Das ist ungemein wichtig.

Und was machen Sie für die Schüler?

Wir haben Schwerpunkte wie Präventionsarbeit und Auseinandersetzung mit Cybermobbing und Antisemitismus im Schulprogramm sowie im schulinternen Curriculum verankert. Wir bieten in den Jahrgängen 8 bis 12 Workshops mit Trägern wie den Heroes und dem Violence Prevention Network (VPN) an. Da geht es um Themen wie Ehrvorstellungen, interkulturelles Zusammenleben und Diversität, um Islam und Extremismus sowie um verschiedene Perspektiven auf den Nahostkonflikt.

Sind viele Ihrer Schüler antisemitisch?

Bei diesen Fragen geht es zunächst mal nicht nur und vor allem um die Jugendlichen, sondern immer auch um die Erwachsenen. Aber ohne Zweifel gibt es Schülerinnen und Schüler, die den Staat Israel ablehnen oder den Holocaust relativieren. Auf dem Schulhof funktioniert „Du Jude“ als Schimpfwort. Ob das viele sind, ist in meinen Augen nicht der entscheidende Punkt. Es passiert und wir müssen dagegen ankämpfen.

Wieso ist Gewalt an Schulen ein so großes Problem?

Das ist schwierig zu beantworten. Die Gewalt reicht in alle Richtungen. Wir haben mit Armut und Marginalisierung zu kämpfen, auch mit Kriminalität. Mit Familienkonflikten. Mit Rassismus. Natürlich müssen wir Lehrer im respektvollen Umgang mit den Schülern ein Vorbild sein. Auch das gelingt nicht immer. Was sehr wichtig ist: Es geht bei unseren Schülern oft auch um eigene Diskriminierungserfahrungen. Beschimpfungen auf der Straße beim Anblick eines Kopftuches beispielsweise.

Ich vermute, Sie wollen das Verhalten der Schüler nicht entschuldigen, nur erklären?

Eigene Diskriminierungserfahrungen berechtigen nicht zu Übergriffen und legitimieren nie die Gewalt gegenüber anderen. Aber wenn wir im ersten Schritt verstehen wollen, warum es dazu kommt, müssen wir solche Erfahrungen berücksichtigen. Wenn wir über Schüler reden, dürfen wir nicht vergessen, dass sie ganz unterschiedliche Hintergründe und Lebensbiografien haben. Und sie entwickeln sich permanent weiter. Jugendliche als ultimative Täter zu sehen, wäre also völlig falsch. Sie sind unsere Partner für Veränderungen. Wir müssen erreichen, dass sie uns zuhören. Es ist unsere Aufgabe, sie in weiteren Schritten zu unterstützen, Wege aus den Vorurteilen und dem Hass zu finden.

Passiert das nicht?

Viele Schüler nehmen es so wahr, dass über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung nur am Rande berichtet wird. Sie haben das Gefühl, keine Stimme zu haben und zum Sündenbock gemacht zu werden. Sie erleben tagtäglich, dass rechter Antisemitismus relativiert wird, obwohl er sehr verbreitet und äußerst aggressiv ist. Gleichwohl sollten wir nicht Diskriminierungen gegeneinander aufrechnen. Das führt nur in einen Kreislauf der Gewalt.

Wie kann man diesen Kreislauf der Gewalt durchbrechen?

Das geht nur auf allen Ebenen gleichzeitig. Zunächst mal sollten wir anerkennen, dass es dieses Problem gibt. Wir alle – in Schule und Politik, im Journalismus und in den Elternhäusern – müssen den Schülern das vorleben, was wir von ihnen erwarten. Das ist eine Frage der eigenen Haltung. Es braucht aber auch ein Bekenntnis der Politik zu diesen Anstrengungen, beispielsweise durch mehr Sonder- und Sozialpädagogen, die mit ihrer Arbeit einen sehr wichtigen Beitrag leisten. Wir brauchen Aus- und Fortbildung der Lehrer für mehr Professionalisierung in diesen Bereichen. Und wir brauchen grundsätzlich eine höhere gesellschaftliche Anerkennung anständigen Verhaltens.

Das klingt schwierig ...

Ist es auch. All das braucht Zeit. Wir reden da in meinen Augen nicht von zwei Jahren, sondern eher von zwei Generationen. Aber wenn wir wollen, dass es dann besser ist, müssen wir jetzt etwas unternehmen. Sofort und umfassend. Alles andere ist Augenwischerei.

Marc Eggert, 40, unterrichtet an der Ernst-Reuter-Sekundarschule in Gesundbrunnen Ethik, Philosophie, Politik und Geschichte.

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