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Berlin: Selten jung

Von den 24 000 Berliner Lehrern sind nur 55 unter 30 Jahre alt – eine von ihnen ist Judith Schlag

Die Berliner vergreisen. Ihr Durchschnittsalter liegt bei knapp über 40 – Tendenz steigend. Die Berliner Lehrer sind schon vergreist. Ihr Alters-Mittel: knapp über 48. Die Pädagogen der Hauptstadt leiden aber nicht unter der demografischen Krankheit, sondern an einer überlangen Ausbildungszeit. Kaum ein Lehrer ist unter 30, wenn er anfängt zu arbeiten. Die jüngste Statistik brachte ein erschreckendes Ergebnis: Von den 23 966 Vollzeit-Lehrern waren im vergangenen Herbst nur 55 unter 30 Jahre alt, ein Anteil von 0,23 Prozent. Wer sind diese letzten Jungpädagogen-Mohikaner? Wie fühlt man sich in dieser Mini-Randgruppe? Werden die 55 Jung-Lehrer von den 23 911 älteren Lehrern überhaupt ernst genommen?

Doch bald kamen Zweifel auf, dass der Junglehreranteil von 0,23 Prozent überhaupt nachweisbar ist. Experten der Lehrergewerkschaft GEW mühten sich, sichteten Geburtsdaten, fragten auf Konferenzen herum und kehrten geknickt an ihren Arbeitsplatz zurück. „Niemanden gefunden", meldete Rose-Marie Seggelke vom Personalrat der Studienreferendare nach aufopfernder Suche.

Da erhielt der Tagesspiegel einen Insider-Tipp: Es gebe da eine Lehrerin an einer katholischen Schule in Wannsee mit dem unverschämt späten Geburtsjahr 1977. Sie heißt Judith Schlag, hat glatte blonde Haare und zwei besondere Kennzeichen: 1. Ihr Lehrer-Studium hat sie nicht in Berlin gemacht. 2. Ihr Lehrer-Referendariat hat sie auch nicht in Berlin gemacht.

Judith Schlag unterrichtet Kunst, Sachkunde, Deutsch, Mathe und Englisch – eigentlich fast alles, was man so unterrichten kann. An der Sancta-Maria-Schule werden 120 geistig- und lernbehinderte Kinder auf das Leben vorbereitet. Im relativ kleinen Kollegium von 25 Lehrern fühlt sich Jung-Lehrerin Schlag voll akzeptiert und integriert. Alle Altersklassen von Jung über Mittelalt bis zu den 60-Jährigen sind vertreten. Die Lehrer hielten an der Sancta-Maria-Schule normalerweise bis zur Pensionsgrenze durch, erzählt Schulleiter Thomas Fischer. Im Normalfall gehen Berliner Lehrer zwischen 55 und 60 Jahren in den Ruhestand.

Dass sie ihre Lehrerstelle weit früher als üblich bekam, empfindet Judith Schlag nicht als außergewöhnliche Glanztat. Es waren mehr die Umstände und Zufälle. Weil ihr die Berliner Unis zu groß, die Stadt zu anonym war, ging sie zum Studium nach Halle. „Dort ist es eher verschult. Die Leute sind ehrgeiziger und disziplinierter. Man hat sich gegenseitig mitgezogen.“ Als Vergleichsparameter diente ihr eine Freundin, die zusammen mit ihr das Studium begonnen hatte – allerdings in Berlin. Inzwischen liegt diese ungefähr drei Jahre zurück.

„In Halle kam ich in jedes Seminar rein“, erzählt Judith Schlag. Ihre Freundin in Berlin musste oft ein Semester warten. Dass Professoren ihre Sprechstunden ausfallen lassen, kennt man in Halle auch nicht. Weil sie Geld von ihren Eltern bekam, musste Judith nicht jobben und konnte sich voll aufs Studium konzentrieren. Gleich nach ihrer Prüfung bekam sie einen Referendariatsplatz in Hamburg. Von den 60 Lehramtsanwärtern war sie die Zweitjüngste. „Im Schnitt waren die Leute 30 bis 32 Jahre alt.“ Der durchschnittliche Berliner Referendar ist gut zwei Jahre älter.

Im Unterricht war sie als Twen-Lehrerin jedoch manchmal im Nachteil. Bei den 18-Jährigen in einer Hamburger Sonderschule gab es auch wegen des geringen Altersunterschieds Disziplinschwierigkeiten. „Davor hatte ich Angst, als ich eine Stelle als Lehrerin suchte.“ In der Sancta-Maria-Schule unterrichtet sie nun in der Unterstufe, „das sind die 8- bis 14-Jährigen. Die respektieren mich.“ Die Unsicherheiten der Einstiegsphase habe sie inzwischen überwunden.

In einer kleinen Privatschule gelandet zu sein, empfindet Judith Schlag als großes Privileg. Die Ausstattung und das Klima seien besser als an staatlichen Schulen, die sie in Hamburg und Berlin kennen gelernt hat. Als Schülerin ging sie auf eine Privatschule in Heidelberg und kam dann wegen des Umzugs ihrer Eltern auf ein großes staatliches Gymnasium in Berlin. „Es war ein Schock. Die Lehrer waren kaum zugänglich. Es gab nur Frontalunterricht nach der Methode rein-raus-fertig.“ Die Lehrer waren überwiegend älter.

Das bedeutet nicht, dass ältere Lehrer automatisch die schlechteren sind. Das pädagogische Risiko liegt eher darin, dass sie im Kollegium die Mehrheit bilden und sich gegen neue Ideen und Konzepte abschotten. „60 Prozent der Lehrer sind über 50 Jahre alt“, erklärt Ilse Schaad von der GEW. Ihre produktivste Phase haben sie dann schon hinter sich.

Judith Schlag hat ihre produktive Phase noch vor sich. „Wenn Lehrer an eine Schule kommen, müssen sie sich erst mal positionieren und den Unterrichtsalltag bewältigen“, sagt Ilse Schaad, „unabhängig vom Alter.“ So nach drei bis fünf Jahren hätten sie dann genügend Routine und damit freie Zeit, um sich in Reformprojekte einzubringen. Der durchschnittliche Berliner Jung-Lehrer ist dann Ende 30 und hat noch rund 18 Jahre bis zur Frühpensionierung.

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