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Erinnerungen. Taghreed Dawas erzählt von ihrer Heimatstadt Yarmouk.

© Markus Werner

Geflüchtete in Berlin: Sieben Tage, sieben Nächte

So viel erlebt, so viel zu sagen: In der Storytelling Arena der Schottin Rachel Clarke erzählen Geflüchtete ihre Geschichten. Und Deutsche und Syrer hören gebannt zu.

Fünf Menschen auf der Bühne, sie sitzen mit hochgereckten Armen da, die Handgelenke zusammengepresst, wie gefesselt: „So“, sagt Mohamad Wanli, „haben sie mich aufgehängt, sieben Tage und Nächte lang.“ Mohamad Wanli, 33 Jahre alt, ein großer wuchtiger Mann mit Bart und Pferdeschwanz, erzählt auf der Bühne des ehemaligen Stummfilmkinos Delphi von schrecklichen Tagen und Wochen in einem von Assads Gefängnissen. Er erzählt auf Arabisch, die anderen Darsteller auf der Bühne sprechen die Sätze danach auf Englisch oder auf Deutsch, das Publikum, überwiegend jung und etwa zur Hälfte Syrer und Deutsche, lauscht gebannt. „Der Wärter stand nur auf, um mich zu schlagen.“

Das Interesse des Publikums spüren

Geschichten aus Syrien, das sind grausame, schockierende, traurige Geschichten. Aber es gibt auch zarte und lustige Geschichten, vom Syrien vor dem Krieg, von der Liebe oder glücklichen Zufällen. In der „Storytelling Arena"“, die sich die Schottin Rachel Clarke ausgedacht hat, gibt es Platz und Publikum für alle Themen. Seit Januar lädt Clarke, selbst professionelle Erzählerin, zusammen mit dem syrischen Schauspieler Bassam Dawood regelmäßig zu einer syrischen Reihe, die meistens im Wasserturm Kreuzberg stattfindet: Hier erzählen geflüchtete Autoren, Schauspieler, Journalisten und andere von ihren Erlebnissen vor dem Krieg, bei den Demonstrationen, auf der Flucht oder in Deutschland. „Für die Syrer ist es wohltuend, ihre Geschichten erzählen zu können und das große Interesse des Publikums daran zu spüren. Und die deutschen Gäste sind sehr neugierig darauf, ihre neuen Nachbarn kennenzulernen“, sagt Clarke.

Eye to eye, mind to mind, heart to heart

Auf die Idee zur syrischen Reihe kam Rachel Clarke, als sie ehrenamtlich in einem Brandenburger Flüchtlingsheim Deutsch unterrichtete. „Ich habe da so interessante Menschen getroffen, die so viel zu erzählen hatten. Wir haben ihre Geschichten im Unterricht besprochen und überlegt, wie wir sie aufführen können.“ Denn Erzählen heißt in der Storytelling Arena nicht Vorlesen, sondern die Erzähler wandern im Tandem, mit einem Übersetzer, durchs Publikum, die Geschichten werden frei erzählt und in Szene gesetzt. In Rachel Clarkes schottischer Heimat hat die Erzählkunst eine Renaissance erfahren, da sie besonders intensive persönliche Begegnungen ermöglicht: „In Schottland sagen wir, man soll auf Augenhöhe mit dem Publikum erzählen, eye to eye, mind to mind, heart to heart“, sagt Clarke. Zusammen mit dem Schauspieler Bassam Dawood coacht sie die Vortragenden vor den Auftritten inhaltlich und dramaturgisch.

Ihr denkt, wir hatten eine Ziege?

Die junge palästinensische Syrerin Taghreed Dawas erzählt von ihrem Großvater und dem palästinensischen Flüchtlingscamp Yarmouk bei Damaskus, in dem sie groß wurde: „Wenn ihr Flüchtlingscamp hört, dann denkt ihr vielleicht, dass mein Vater ein Zelt für uns aufgebaut hat, in dem wir alle lebten, dass wir eine Ziege hatten und unter der Regenrinne duschten? Nein, Yarmouk ist eine kleine Stadt, sie hat Häuser, Läden, Straßen, Schulen, Kulturzentren, ich bin stolz, von dort zu sein.“

Taghreed und ihr Großvater fühlten sich in Yarmouk zu Hause, obwohl sie genau genommen Flüchtlinge waren. Seit 2013 jedoch wird der Stadtteil belagert, die meisten Einwohner sind bei den Kämpfen getötet worden, verhungert oder erneut zu Flüchtlingen geworden. Taghreed Dawas hat ihre Tochter seit zweieinhalb Jahren nicht gesehen, „weil ich keinen Pass und kein Visum habe, um zu reisen.“

Rachel Clarke ist oft beeindruckt, mit welcher Kraft ihre syrischen Freunde die Schicksalsschläge ertragen, mit denen sie immer wieder konfrontiert sind – wenn sie etwa erfahren, dass ein Angehöriger, ein Freund umgekommen ist. „Und wenn sie davon erzählen, reißen ja auch alte Wunden wieder auf.“ Der Literaturwissenschaftler und Journalist Khalid Al Alaboud aus Daraa etwa trägt die Geschichte eines Freundes vor, der bei einer Anti-Assad-Demonstration erschossen wurde.

Am Ende wird getanzt

Doch die Storytelling-Abende enden nicht in Schwermut: Wenn – wie am vergangenen Samstag im ehemaligen Stummfilmkino Delphi – die Band „Musiqana“ mit ihrem Sänger Abdallah Rahhal traditionelle syrische Tarab-Musik spielt, dann klatschen alle mit, und am Ende tanzen Syrer und Deutsche, Männer und Frauen zusammen den Reihentanz Dabka, verbunden durch die Musik und die gemeinsam gehörten Geschichten.

Die nächste Storytelling Arena findet am Freitag, 27. Mai, statt, das Thema: „Syrer in Deutschland“, mit dem Schauspieler und Satiriker Ramo Ali, Schauspieler Alaa Alhaider, dem Storyteller-Dolmetscher Firas Al Youni und Sänger Mi Lo aus Syrien und Band. 20 Uhr, Wasserturm Kreuzberg, Kopischstr. 7, Infos hier. Am 24. Juni gibt es „Syrische Liebesgeschichten“

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