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Windmacher. Karl Heinz Jeron in seinem Atelier in Hohenschönhausen. Früher habe die Stasi hier Abhörgeräte gebastelt, erzählt er.

© Kitty Kleist-Heinrich

Sinfonie der Windräder: Musik fliegt in der Luft

Der Künstler Karl Heinz Jeron plant konzertante Wanderungen durch einen Windpark. Außerdem bringt er altes Obst zum Klingen.

Es sieht ein bisschen aus wie bei Al Qaida im Atelier von Karl Heinz Jeron. Auf dem staubsaugerbedürftigen grauen Teppich stehen drei Tapeziertische und darauf filigrane Gebilde aus Drähten, Platinen, Batterien und Klebebändern. Dazwischen Bohrer, Schraubendreher, Cuttermesser, Lötkolben, Laptop. „In den USA mache ich keine Ausstellungen mehr“, bestätigt Jeron den Befund. „Die Wahrscheinlichkeit, dass das am Flughafen JFK gesprengt wird, ist größer als 90 Prozent.“ Also sucht er sein Publikum anderswo. Zurzeit beispielsweise bei Pankower Gymnasiasten, mit denen er in einer Projektwoche aus Obst und Gemüse elektronische Musik erzeugt. Ein Berliner Mike Oldfield mit Möhren statt Moog. Als Nächstes plant er konzertante Wanderungen durch einen Windpark im Havelland. Was man da erleben könne? „Auf jeden Fall mehr als nur Fft-fft-fft“, sagt Jeron. Er bleibt heute länger, um seine Geschichte zu erzählen. Normalerweise würde er sich jetzt langsam auf den Rückweg machen von diesem supergünstig gemieteten Raum im Gebäudegewirr der Stasi- Gedenkstätte Hohenschönhausen zu seiner Kreuzberger Wohnung. Zu Fuß. Eine Stunde und eine viertel brauche er, sagt der 50-Jährige, der sich im Laufe dieses Gesprächs als kein bisschen verrückt erweisen wird.

Die Idee zur Windradsinfonie entstand bei einem Studienaufenthalt im Münsterland, als er zwischen den Rotoren spazieren ging. Aufs erste Erstaunen – die sind ja gar nicht so laut! – folgte die Erkenntnis, dass sich das rhythmische Rauschen der Flügel an bestimmten Stellen zu einer Art Musik zusammensetzt, die sich durch Herumlaufen systematisch variieren lässt. „Der Begriff ,Solist‘ ist vielleicht hochgegriffen“, sagt Jeron. Eher gibt es einen Backgroundchor, aus dem plötzlich ein besonderer Klang mit höherem Ton oder schnellerem Takt hervorsticht: Ein Sit-sit-sit-sit-sit im Ffft-fft-fft. Der Effekt sei auch bei verschiedenen Windstärken und -richtungen gut reproduzierbar. Hinzu kämen Besonderheiten wie Getriebeschäden, die den Klang der Mühlen zwar selten besser, aber oft markanter machten. Nachdem er im Münsterland den skeptischen Anwohnern die Ohren geöffnet habe, spüre er auch für seinen auserkorenen Windpark bei Nauen ein gutes Gefühl für die Publikumstouren. Etwa 30 Euro werde die Teilnahme wohl kosten; Bahn- und Busfahrt inklusive. Die erste Halbtagestour zu den 17 Mühlen plant er für den 9. oder 16. März – je nach Wetter, denn bei Landregen und Flaute fällt die Veranstaltung aus. Gestartet wird am Berliner Hauptbahnhof. Die Anreise per Auto ist nicht vorgesehen, weil sie so wenig passen würde wie die sprichwörtliche Tour zum Bioladen im Geländewagen, findet der Künstler.

Abgesehen von den teilweise von grün zu weiß verlaufenden Füßen mag der studierte Maler Jeron die Windräder auch optisch. Ein Lobbyist oder Profiteur der Branche sei er nicht. Nach seinem Eindruck seien die Anlagen vor allem da verhasst, wo die Nachbarn nicht an Planung oder Ertrag beteiligt würden – so wie bei den jetzt diskutierten Hochspannungsleitungen, die den grünen Strom zu den Leuten bringen sollen.

Seit er sich bald nach dem Kunststudium von der Malerei abgewandt hat, widmet sich Jeron im weitesten Sinne der Elektrik. Vor der Google-Ära sei das Buch „111 Schaltkreise für jeden Zweck“ sein maßgeblicher Ratgeber gewesen. An einer Wand des Ateliers hängt ein Schaltplan für ein Keyboard: Zwei stecknadelgroße Transistoren, ein Kondensator und ein Lautsprecher werden verkabelt und mit je einem Anschluss aus Zink und Kupfer versehen. Wenn der in zwei miteinander verbundene Kartoffeln gesteckt wird, fließt dank eines galvanischen Prozesses – leidlich bekannt aus Physikunterricht und Knoff-Hoff-Show – Strom. Der Sound wird über eine weitere Kartoffel variiert: Mit dem Abstand der hineingebohrten Stecker ändert sich der elektrische Widerstand und damit die Tonhöhe. „Eine Gurke ist wegen ihrer Länge als Keyboard noch besser“, sagt Jeron.

„Fresh Music for rotten Vegetables“, heißt Jerons Obst- und Gemüseprojekt. Bei einem Workshop an der UdK begann es damit, dass die Kunststudenten in Supermärkten Grünzeug schnorren mussten, das wegen kleiner Schönheitsfehler weggeworfen werden sollte. Bei den Pankower Gymnasiasten wurde diese Ouvertüre durch die Hausaufgabe ersetzt, Angegammeltes aus den heimischen Vorräten mitzubringen. Ums weitere Equipment kümmert sich Jeron, die Komposition überlässt er einem Musiklehrer. Den Physikkollegen habe er lieber ferngehalten, weil das Fach den meisten Schülern zu unsexy sei. Es reicht Jeron, wenn die Schüler zur Stromversorgung die Faustregel kennen, dass drei Kartoffeln eine LED leuchten lassen. Klingt verrückt. Aber ist es nicht ebenso verrückt, dass die Energie aus denselben drei Kartoffeln einen Menschen zu Fuß, sagen wir, von Kreuzberg nach Hohenschönhausen bringt?

Jeron ist zwar ein Öko-Künstler, aber mehr Künstler als Öko. Zu seinen bisherigen Werken zählt die Choraufnahme eines vorbeidonnernden Jets in der Einflugschneise von Tegel, eingesungen von einem Chor und verewigt als Partitur. Für den Ruhetag X, der ja längst zum Tag Y oder auch Z geworden ist. Jeron könnte sich über das Flughafenthema mit all seinen finanziellen Folgen aufregen, zumal als Vater eines schulpflichtigen Sohnes. Aber er lässt es lieber. Er hat interessantere Dinge zu Gehör zu bringen.

Informationen zu den Projekten: www.jeron.org, Anmeldung zur Windpark-Tour unter hallo@jeron.org

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