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Sprach- und Bewegungsdefizite: Jedes vierte Kind in Berlin bekommt eine Therapie

Die Zahl der Berliner Kinder mit auffälligen Bewegungs- und Sprachdefiziten steigt rasant. Nach Schätzungen des Verbandes der Berliner Kinderärzte bekommt bereits jedes vierte Kind zwischen zwei und sechs Jahren eine logopädische oder ergotherapeutische Behandlung verordnet, um es "schulfähig zu machen".

Berlin - Die Zahl der Berliner Kinder mit auffälligen Bewegungs- und Sprachdefiziten steigt rasant. Nach Schätzungen des Verbandes der Berliner Kinderärzte bekommt bereits jedes vierte Kind zwischen zwei und sechs Jahren eine logopädische oder ergotherapeutische Behandlung verordnet, um es „schulfähig zu machen“. Alleine in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres bezahlten die Krankenkassen in Berlin rund 19 000 solcher Ergotherapien und 17 000 Sprachtherapien. Nach Berechnungen der Techniker-Krankenkasse haben sich die Zahlen damit seit 2005 mehr als verdoppelt.

„Wir stehen vor einem enormen Problem“, sagte am Montag der Sprecher der Berliner Kinder- und Jugendärzte, Ulrich Fegeler. Ursache ist aus seiner Sicht „die erschreckende Anregungs- und Erfahrungsarmut in vielen, vor allem sozial schwachen Familien“. Dies bestätigt auch der Beauftragte des Kinderärzteverbandes für den öffentlichen Gesundheitsdienst, Thomas Abel. Aus Bequemlichkeit werde Kindern oft viel zu wenig erzählt, es fehlten Unterhaltungen, Spiele und gemeinsame Aktivitäten wie Basteln oder Ausflüge, bei denen der Nachwuchs Fingerfertigkeit, körperliches Geschick, sprachliche und kognitive Fähigkeiten schule. „Stattdessen erschlaffen die Kinder vor dem Fernseher und der Playstation“, sagte Abel, der für den kinderärztlichen Dienst des Bezirks Mitte arbeitet. Alle Sinne würden „viel zu wenig gefordert“, ursprüngliche Erfahrungen nicht mehr ermöglicht.

Auch die Barmer Ersatzkasse (BEK) bestätigte den Trend zu „immer mehr Kindertherapien“. Allein von 2007 bis 2008 musste die BEK zwölf Prozent mehr logopädische Behandlungen und 24,6 Prozent mehr Ergotherapien bezahlen. Die Ausgaben stiegen entsprechend. Doch nach Ansicht des Verbandes der Kinderärzte sind diese Gelder „wenig effektiv eingesetzt“. Die Therapeuten könnten nicht nachhaltig helfen, sagte Ulrich Fegeler. Das Problem werde auf die Medizin abgeschoben. Vermehrte Therapien seien Ausdruck wachsender Hilflosigkeit. Stattdessen forderte Fegeler sozialpsychologische Hilfen nicht nur für einzelne Kinder, sondern für ganze Familien sowie „umfassende, wissenschaftlich aufbereitete Förderprogramme, die konsequent in allen Kitas durchgeführt werden müssen“. Diese Programme sollten die Kassen mitfinanzieren. „Das wäre eine wirksame Vorbeugung, viel Geld würde gespart. Therapien sind erheblich teurer“, erklärte Fegeler. Berlins Kindertagesstätten bemühten sich zwar schon „redlich“ um Sprach- und Bewegungsförderung, sie seien aber häufig durch Personalmangel und zu große Kindergruppen überfordert. Außerdem gebe es „viel zu viele, nicht aufeinander abgestimmte Fördermaßnahmen“. Die Kinderärzte regen deshalb einen Runden Tisch von Medizinern, Erziehern und Vertretern der Krankenkassen an. Dort könne man sich austauschen und nachhaltige Maßnahmen beschließen.

Im Bezirk Mitte geschieht zurzeit das Gegenteil. Dort wurde im Januar laut Kinderarzt Thomas Abel ein erfolgreiches Hilfsprojekt für Kinder sozial schwacher Familien eingestellt. Etwa 50 Mädchen und Jungen konnten dabei einzeln und in der Gruppe turnen, ihre Konzentrationsfähigkeit trainieren, sich motorisch entwickeln und Sozialverhalten einüben. Auch die Eltern waren in das Projekt einbezogen. Aus finanziellen Gründen habe der Bezirk diese Förderung aufgegeben

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