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Warten aufs Glück. Etem Sesens Lottoladen in der Müllerstraße.

© Kitty Kleist-Heinrich

Nach Lotterie-Gewinn: Ein Kiez rätselt

Gesucht wird ein Lotto-Millionär, der eigentlich nur drei Richtige hatte - seinen Gewinn bisher aber noch nicht abgeholt hat. Im Wedding machen sich viele Gedanken, wer der unbekannte Glückspilz sein könnte.

Die ganz große Aufregung sieht anders aus und die Müllerstraße eigentlich so wie immer. Passanten tragen Einkaufstüten, ein paar Handwerker warten vor einem Imbiss auf ihre Döner, die unvermeidlichen Jugendgangs lehnen an Hauswänden oder drehen ohne erkennbares Ziel ihre Runden. Vor seinem Kiosk Ecke Kameruner Straße beendet Etem Sesen die letzten Züge seiner Zigarette. Auch er hat es nicht besonders eilig – die Kundschaft ist rar. Sesen ist ungefähr vierzig und betreibt in dem Laden seit fünf Jahren eine Lottoannahmestelle.

Von dem ominösen Gewinner hat er natürlich längst gehört, bevor sich die Lottogesellschaft an die Öffentlichkeit wandte: „Die ersten Gerüchte unter Kollegen gab es schon vor drei Tagen. Heute habe ich es dann im Radio gehört.“ Ein Unbekannter hat in Wedding am 24. Januar um 07:12 Uhr einen Lottoschein mit drei Richtigen abgegeben. Dieser Schein ist durch eine nachträgliche Sonderziehung eine Million Euro wert – der Besitzer aber ist bisher nicht aufgetaucht.

Eine Frau betritt Sesens Laden, zwei Kinder im Schlepptau. Sie ist nicht die Millionärin, nur Raucherin. Sesen lächelt viel, er ist ein sehr freundlicher Verkäufer. Beim Thema Lotto schleicht sich aber eine gewisse Tiefe in seine Worte. Ob es für ihn den idealen Millionengewinner gäbe, jemanden, dem er es so richtig gönnen würde? „Nun. Natürlich denjenigen, die das Geld am meisten gebrauchen können. Aber am wichtigsten ist, dass man nicht zu viel gewinnt. Man sollte sich das Geld immer teilen. Wenn einer gewinnt, dann gibt es viele, die sich ärgern. Die Leute fangen an zu reden.“

Sesens Lottohöhepunkt in seinem Kiosk war einmal ein Fünfer mit Superzahl. Um wie viel Geld es genau ging, weiß er nicht. Summen, die 500 Euro überschreiten, werden direkt in der Lottozentrale abgewickelt. Die Gewinnerin, eine alte Dame, hatte vor Aufregung plötzlich begonnen, zu zittern und war mit den Nerven völlig am Ende. „Ich habe dann ihre Tochter angerufen, die hat sie abgeholt. Ich habe keine von beiden jemals wieder gesehen. Dabei war die Dame vorher sehr oft im Laden.“

Ein Kiosk ein paar Meter weiter: Müllerstraße, Ecke Barfusstraße. Im Sortiment Tabakwaren, Zeitschriften, Getränke und ein paar Lebensmittel. In genau so einem Laden wurde der Schein vor knapp zwei Wochen eingelöst. Mehr Informationen gibt die Lottogesellschaft nicht heraus und begründet dies mit „unangenehmen Erfahrungen“ und „Belagerungszuständen“. Davon kann hier im Kiosk keine Rede sein: In zehn Minuten verirrt sich gerade ein Kunde in den Laden – und der kauft nichts. Der schlanke Kioskbesitzer hat einen akkuraten grauen Seitenscheitel und einen schmalen Oberlippenbart. Er hat auch einen Namen, aber den möchte er nicht in der Zeitung lesen.

Dafür hat er einige Beispiele, etwa von einem Spiel-77-Gewinner aus Halensee – so recht wird einem sein Punkt nicht klar. Doch in den elf Jahren, die er den Laden betreibt, habe er so manche Gewinner gesehen, darunter auch ein paar höhere Beträge: „Ich habe keinen wiedergesehen – und das waren fast alles Stammkunden. Wahrscheinlich hatten sie Angst, ich würde sie ausrauben. Aber ich weiß doch noch nicht einmal, wo die wohnen.“

Noch einmal zwei Gehminuten entfernt, Müllerstraße, Ecke Otawistraße: Hier lässt sich das Thema etwas lockerer an. Die Verkäuferin, eine junge fröhliche Frau, ist von der Geschichte mit dem unbekannten Millionär sehr angetan, sie hat sie aus dem Radio erfahren. Den Laden hat sie mit ihrem Mann erst vor kurzem übernommen – vom informellen Informations- und Gerüchtefluss der Lottokioske sind die beiden wohl noch ausgeschlossen. Umso schöner lässt sich spekulieren: „Ich habe eine Kundin, die ist schon älter und trinkt ganz gerne mal einen. Der würde ich es gönnen. Aber ob die damit wirklich etwas Sinnvolles anstellen würde?“ Und generell: „Ob Geld wohl wirklich glücklich macht?“

Ein Tonsignal erklingt und ein sehr großer, sehr muskulöser Mann tritt durch die Tür in den Verkaufsraum, er trägt einige Kartons vor der Brust: „Du kannst doch nicht einfach solche Sachen hier erzählen.“ Der Eigentümer und Ehemann der Verkäuferin ist nicht unfreundlich, aber auf der Hut: „Wir haben überall die Schilder, die vor übermäßigem Lottospiel warnen.“ Außerdem habe er doch so viel interessantere Geschichten zu erzählen. Er war mal Informatiker, außerdem gäbe es in seinem Laden leckere Wurst „und man kann hier ja auch seine Post abgeben.“ Aber beim Thema Lotto, da will er nicht heraus mit der Sprache. Nur so viel: „Wenn man Glück hat, hat man Glück. Und wenn man Pech hat, hat man Pech.“

Der Lottogewinner vom Wedding hat noch bis zum 27. April Gelegenheit, seine Million abzuholen. Wenn er seinem Glück traut.

Ferdinand Dyck

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