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Historische Alltagsfotos: Schätze in Schwarzweiß

Susann Hellemann und Lothar Binger sammeln alte Familienalben. Die beiden Kulturhistoriker haben auf Flohmärkten 1800 private Fotoalben mit hunderttausenden Bildern aus dem 19. und 20. Jahrhundert gefunden. Ein paar Einblicke.

Den Einband schmückt ein üppiges Blumenmuster. „Mein Sohnemann“ hat Georgs Vater auf die erste Seite geschrieben. Mit großen, etwas zittrigen Schriftzügen. „Das hier war Georgs Leben“, sagt Susann Hellemann. Dann blättert sie in dem Fotoalbum. Ganz vorne sitzt ein kleiner Junge auf Opas Schoß. Stolz gibt ihm der alte Mann die Flasche. Mit Purzelbäumen geht es weiter, Kindergeburtstagen, Ferienlagern am Müggelsee – bis zur ersten Soldatenuniform 1944. Da war Georg 19 Jahre alt. Die folgenden Seiten hat Georgs Vater besonders liebevoll gestaltet. Es ist alles mit Sorgfalt dokumentiert: In welcher Gegend an der Adria seinen Jungen der tödliche Granatsplitter traf, Georgs provisorisches Soldatengrab unter Weinstöcken, die letzte Ruhestätte auf dem Ehrenfriedhof bei Ravenna.

Das Album lag in einer Trödlerkiste in Kreuzberg, begraben unter Second- Hand-Büchern. „So verliert sich die Spur eines Menschen“, sagt Susann Hellemann. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Historiker Lothar Binger (68), hat die 52-jährige Kulturwissenschaftlerin in den vergangenen 30 Jahren auf Berliner Flohmärkten und in Trödelläden private Fotoalben erworben und in ihrem Haus in Kleinmachnow eine einmalige Sammlung zusammengetragen: Über 1800 Alben mit mehreren 100 000 Fotos von 1860 bis zur Gegenwart.

„Archiv historische Alltagsfotografie“ nennen sie diesen Fundus. Im Berliner Landesarchiv und in den Sammlungen vieler Museen gibt es gleichfalls Tausende Fotodokumente. Doch häufig sind es Stadt- und Architekturansichten oder Innenaufnahmen, auf denen keine oder eher zufällig ins Bild geratene Menschen zu sehen sind. Es fehlt der private Blick.

Wer bei Susann Hellemann und Lothar Binger Alben durchstöbert, lernt Biografien und Familiengeschichten kennen, hat den Wandel von Lebens- und Wohnverhältnissen vor Augen, von Moden, Gebräuchen. Und er erlebt, was den Amateurfotografen wichtig war: Taufe und Einschulung, Hochzeit, Weihnachten, Karneval, Badespaß, Sport, Hausmusik oder einfach glückliches Zusammensein.

Vier junge Frauen sticken 1926 eng zusammengerückt auf einem Balkon in Prenzlauer Berg. Die Brüstung schmücken Kakteen und Oleander. Auf anderen Balkonen werden Kanarienvögel gefüttert, Geburtstagstische aufgebaut, man räkelt sich mit dem Dackel auf der Liege, Kinder präsentieren sich mit der Schultüte. „Berlin war schon vor hundert Jahren die Hauptstadt der Balkone“, sagt Lothar Binger. „Nirgendwo gibt es mehr Ausgucke an den Hausfassaden als bei uns.“ Der Balkon als Kinderzimmer, Gartenlokal, Studierstube oder Liebesnest. Darüber hat das Sammlerpaar vor einigen Jahren reich illustrierte Bücher veröffentlicht mit Berliner und Potsdamer Balkongeschichte(n).

Herausgeputzt mit Strohhut und Sonnenschirm posiert eine Frau 1910 zwischen Geranien im Vorgarten. Ganz anders die Garten-Schnappschüsse der späten zwanziger Jahre. Da zeigen sich Freundinnen mit Schlips und Kurzhaarschnitt oder in Dessous und drehen dem Fotografen eine Nase. „Es war die Befreiung aus den Zwängen der Gründerzeit, die Lust am Neuen“, sagt Binger. Und es war die Zeit, als solche Augenblicke erstmals massenweise festgehalten wurden. Damals kamen die ersten erschwinglichen Kameras auf den Markt.

Ihre Sammlung haben die beiden Kulturhistoriker wissenschaftlich aufgearbeitet und sich damit selbstständig gemacht. Sie stellen Ausstellungen für Bürgerhäuser, Seniorenresidenzen oder Museen zusammen und haben weitere Bücher veröffentlicht, wie über die Geschichte des Berliner Kinderspiels, „100 Jahre Silvesterfeiern“ oder den Berliner Witz. Mit Fotos und Texten zur jeweiligen Alltagsgeschichte. 2009 brachten sie einen Fotoband über den Mittelpunkt der meisten Wohnungen heraus: „Küchenleben, 1900 bis 1960.“

Susann Hellemann und Lothar Binger sind in West-Berlin aufgewachsen. Hier begannen sie in den 70ern, Geschichten und Fotos der kleinen Leute zu sammeln. Auf dem Winterfeldtplatz dokumentierten sie in ihrer ersten Ausstellung das Leben im Kiez. Schon damals wurde ihnen klar, wie bedeutend das Fotoalbum für viele Menschen ist. „Ein Küsschen von Mami, da muss ich aber lachen“, steht unter den ersten Fotos von Maria aus Friedrichshain, eingeklebt in den Fünfzigern. Später sieht man sie auf dem Dreirad, am Strand auf Fischland, auf der Brigadefahrt zur Oder. „Fotoalben bieten die Chance, zurückzuschauen, das eigene Leben zu rekonstruieren,“ sagt Binger. „Der familiäre Zusammenhalt wird gestärkt.“ Und: „Solange man die Alben achtsam erhält, bleiben die Menschen auch nach dem Tod auf den Bildern ein klein wenig lebendig.“

Als sie einst die ersten Alben vom Trödel aufschlug, kam sich Susann Hellemann „wie eine Voyeurin“ vor. Heute weiß sie, „welchen Schatz wir aufbewahren.“ Doch bleibt der Wert des privaten Fotos im Zeitalter von Facebook und Digitalkameras erhalten? Ihr jüngstes Dokument ist eine im PC gebastelte Hochzeitszeitung. Binger legt Schnappschüsse von einer Heirat um 1948 daneben. An der Mode erkennt man den Zeitsprung. Aber die Gesichter, die Posen, mit denen sich jeder in Szene setzt, könnten von heute sein. Die Faszination, sich selbst und den Augenblick festzuhalten, ist geblieben.

Archiv historische Alltagsfotografie, Tel.: 033 203-777 88, susann.hellemann@ freenet.de., „Küchenleben“, Culturcon Medien, 14,95 Euro

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