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Berliner Jahrhundertkneipen: Hoch die Lokalpatrioten

Der Schriftsteller und Regisseur Clemens Füsers hat den letzten Alt-Berliner Kneipen ein Denkmal gesetzt – mit einem Fotobuch.

Gleich sechs Uhr abends, doch der „Diener“ ist noch zu. Ein Mann rüttelt an der Klinke und zieht missmutig wieder ab. Ebenso ein zweiter, ein dritter. Der Durst scheint groß in Charlottenburg. Dann endlich öffnet sich die Tür zur Grolmannstraße. Warmes Kneipenlicht fällt auf novemberfeuchtes Pflaster. Drinnen warten Schmalzstullen, Schultheiss und – ein aufgerissener Rachen. Der gehört Schmusebär, auch bekannt als James, dem Kneipenhund, einer grollenden Mischung aus Rottweiler und Schäferhund. Wenn Schmusebär da ist und die Kundschaft ankläfft, steht stets die Schauspielerwitwe Gitti Grubel hinterm Tresen der Traditionsschenke. Herzlich ist sie und blond. Was Clemens Füsers trinkt, das weiß sie auswendig. Sie bringt ein Andechser. Wie jetzt, kein Schultheiss? Er guckt schuldbewusst.

Dabei muss der Schriftsteller und Regisseur seinen wortwörtlichen Lokalpatriotismus gar nicht mehr beweisen. Am Dienstag stellt er im „Diener Tattersall“ sein neues Buch „Berliner Jahrhundertkneipen. Lokale mit Geschichte und Geschichten“ (Lehmstedt Verlag, 19,90 Euro) vor. Es ist der Nachfolger seines Eckkneipen-Buches „Letzte Runde?“, in dem er sich vor zwei Jahren bereits um eine Bestandsaufnahme und Kulturgeschichte Berliner Bierschwemmen kümmerte (Wasmuth Verlag, 15 Euro). Die stimmungsvollen Fotos stammen in beiden Büchern von Gudrun Olthoff.

Im neuen Band setzt der überzeugte Kneipengänger Füsers nun 15 Alt-Berliner Lokalen ein Denkmal, die seit mindestens 100 Jahren Molle mit Korn ausschenken. Berlin ältestes Lokal „Zur letzten Instanz“ in Mitte bringt es sogar auf fast 400 Bestandsjahre. Bei der „Alten Kolkschenke“ in Spandau, einer pittoresken, von einer greisen Wirtin betriebenen Spelunke im hintersten Altstadtwinkel, sind es immerhin 350.

Die wehmütige Fotoausstellung „Berliner Eckkneipen – 25 Wohnzimmer“ von Pia Wessels und Peter Liptow war im Juni in der Galerie des Saalbau Neuköllns zu sehen. Sie drehte sich auch um das Thema Kneipensterben. Die typische Arbeiterkneipe stirbt aus, weil in der Stadt keine Schwerindustrie und kein Proletariat mehr zu finden ist. Ein Fünftel der 160 erwähnten Kneipen aus seinem Buch von 2009 seien inzwischen geschlossen, schätzt Füsers. Der Mittelschichtler geht lieber ins schicke Restaurant oder bleibt gleich zu Hause vor dem Flachbildfernseher kleben. Den Hipster zieht’s in Clubs.

Berlin war einst die Stadt mit der größten Kneipendichte Europas

Noch vor 150 Jahren war Berlin die Stadt mit der höchsten Kneipendichte Europas, hat Füsers ermittelt. Und dann um die Jahrhundertwende erst. Die Fabriken stanken, die Mietskasernen quollen über, die Theke war der allerbeste Platz. Auf 150 Einwohner kam eine Wirtschaft. 30 000 lizensierte Lokalitäten gab es 1930 in der Stadt, 2002 waren es nur noch 15 000, weiß Füsers. Und in sein Raster, hundertjährig, Geschichten-prall, original eingerichtet und atmosphärisch zu sein, passen heute in der Innenstadt nur noch zwei Dutzend Kneipen.

Echte Wirtshäuser wie das „Max und Moritz“ in der Oranienstraße in Kreuzberg, „E & M Leydicke“ in der Mansteinstraße in Schöneberg, die „Restauration zur Gardestube“ in der Rosenstraße in Köpenick, das „Xantener Eck“ in der gleichnamigen Straße in Wilmersdorf, „Gambrinus“ in der Linienstraße in Mitte. Oder eben der „Diener“ am Savignyplatz, der sich seit 1896 von der Kutscherkaschemme des Reitstalls „Tattersall“ zur Künstlerkneipe gemausert hat.

Der bärtige Grantler mit dem bayerischen Akzent, der jetzt an den Tisch tritt, ist Seniorwirt Rolf Honold. Nach dem Tod von Franz Diener, einem Schwergewichtsboxer, hat er die Wirtschaft 1969 übernommen. Bis vor fünf Jahren, als der die Kneipe an seinen Stammgast, den Schauspieler Heinz-Werner Krähkamp übergab, war er hier mit dem Zapfhahn verwachsen. Weil er stets durstig gewesen sei, grinst er. Inzwischen bevorzugt er offensichtlich Wasser. Was sich in seinen 40 Jahren hier verändert hat? Honold zuckt die Achseln. „Ab und zu ist ein Bild dazugekommen“, sagt er und deutet auf die dicht mit Fotos prominenter Gäste bepflasterten Wände. Wurde nie renoviert? „Gott bewahre“, ächzt er, „nur mal die Gardinen gewaschen“. Wie muss ein guter Gast sein? „Spendabel.“ Und wie ein guter Wirt? „Verschwiegen.“ Mehr Kneipenphilosophie ist aus dem Mann, der Hilde Knef, Udo Jürgens, Harry Belafonte oder Helmut Newton bediente, nicht raus zu bekommen.

Sein Stammgast Füsers wohnt gleich gegenüber und ist so ziemlich jeden Abend hier. Am Familientisch, gleich links von der Theke, dahin hat er sich in langen Jahren vorgetrunken. Er habe Stammkneipen, seit er sechs sei, sagt er. Der Sohn eines Schlosses aus Mönchengladbach ist da sozusagen aufgewachsen. Und als er 1977 nach West-Berlin kam, blieb er eben dabei.

Dabeibleiben, weitermachen, festhalten – darum geht es vielen der vorgestellten Wirtsleute. Manche von ihnen zapfen in der dritten oder vierten Generation, da pfeift man leichter auf den Zeitgeist und Moden, auf Latte Macchiato oder Champus mit Aperol. Matthias Gerhus, der die kultige „Bornholmer Hütte“ in Prenzlauer Berg von seiner Mutter Christine übernommen hat, schiebt nur vier Getränke über den Tresen: „Bier und Schnaps und Schnaps und Bier“. Das Konzept überzeugt: Die älteste intakte Kegelbahn Berlins im Keller der „Hütte“ ist dauernd ausgebucht. Der Wirt geht davon aus, dass das so bleibt. Falls Buchautor Füsers noch was fragen wolle, wisse er ja, wo er ihn die nächsten 25 Jahre finde, beschied er den Lokalchronisten. Einen zeitlosen Kneipengänger-Katechismus gibt denn auch das Motto der „Bornholmer Hütte“ ab: „An irgendwas muss man ja glauben, und ick glaub, ick trink noch eenen.“

Buchpremiere: Diener, Grolmannstraße 47, Charlottenburg, Dienstag, 15. November, 18 Uhr, Eintritt frei

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